Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
unerlaubten Reise in die Sowjetunion einfach mit einigen seiner Dias von Landschaften, Menschen, Pflanzen und Tieren zu ihr gegangen war und ihr vorgeschlagen hatte, einen Vortragsabend zu gestalten. Die beeindruckenden Fotos des jungen Mannes und seine Leidenschaft, anderen sein Wissen zu vermitteln, fand die Leiterin ungewöhnlich. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, zu fragen, wie Jens es in die Sowjetunion geschafft hatte.
Marie und Jens setzten sich in der Küche am Tisch zusammen und tranken Tee aus China. Jens hatte sogar frischen Bienenstich mitgebracht. Sie überlegten, was die Urania-Einladung für sie bedeutete.
Er hatte seit seinem ersten Vortrag von Mal zu Mal größere Säle erhalten. Oft saßen ein paar hundert Leute im Publikum, wenn Jens Bilder zeigte und von seinen Erlebnissen und Beobachtungen erzählte. Auch unter den Zuhörern hegte niemand je den Verdacht, dass einige seiner Touren höchst illegal waren, ein Ergebnis von Reiselust, Dreistigkeit und Mut zum Risiko. Wer in einer Institution wie der Urania Vorträge hielt, der musste einfach alle Hürden der Erlaubnisbürokratie genommen haben, anders konnte es in diesem Land nicht sein, dachten alle.
Seine Diaschauen wurden mit jedem Vortrag professioneller. Jens überlegte sich die Abfolge der Bilder genau, die Perspektivwechsel, die Themen. Die Zuschauer, die in ihrem Alltag noch nicht von einer bunten Bilderflut überschüttet wurden, waren beeindruckt von der Leuchtkraft seiner Farbdias.
Eines Abends sprach ihn nach seinem Vortrag eine Bildredakteurin des Leipziger Brockhaus-Verlages an.
Ich bräuchte ein paar von den Bildern , die ich eben in Ihrem Vortrag gesehen habe , meinte sie, die passen gut zu Artikeln im nächsten Brockhaus-Lexikon.
Jens war stolz, als die ersten von ihm geschossenen Fotos gedruckt wurden.
Er fotografierte seit Jahren auf seinen Reisen. Meist auf Diafilmen, die er sich immer selbst aus Wolfen besorgt hatte, bei ORWO , der Herstellerfirma. Zwölf Bilder passten auf einen Rollfilm. Er kaufte schon mal hundert oder zweihundert Filme auf einmal und achtete darauf, dass sie aus der gleichen Charge stammten, denn dann waren die Emulsionen bei allen identisch. Das war ihm wichtig, so hatten später die Dias bei seinen Vorträgen stets den gleichen Farbton. Den Tipp, darauf zu achten, hatte er von anderen Naturfotografen aus Leipzig bekommen. Jens testete mit ihnen gemeinsam die Rollfilme anhand von Farbtafeln, und man tauschte untereinander Informationen über Chargennummern und -eigenschaften aus.
Seine Fotoausrüstung war längst über den Amateurstatus hinausgewachsen. Er besaß drei Pentacon 6x6-Mittelformatkameras mit fünf Wechselobjektiven, das stärkste Teleobjektiv war fast einen halben Meter lang und wog gut zwei Kilo. Dafür war die Auflösung extrem hoch, Landschaften und Details erschienen gestochen scharf.
Die wertvolle Kameraausrüstung hatte er sich im Laufe der Zeit zusammengekauft und dazu den passenden Diaprojektor für das Großformat. Weil solche Geräte in den Fotogeschäften nur selten zu haben waren und Jens deswegen oft nachfragte, hatte er viele Gelegenheiten zum Fachsimpeln mit den Verkäufern.
Die Ausrüstung und seine Reisen finanzierte er mit den Vorträgen und dem, was vom Stipendium übrig blieb. Er erhielt 200 Mark im Monat, wie Marie und jeder Student im Land, dessen Eltern nicht zu viel verdienten, plus 15 Mark Berlinzulage. Ein Essen in der Mensa kostete 80 Pfennig, und Fahrkarten zwischen Studien- und Wohnort gab es mit 75 Prozent Ermäßigung, das machte für die meisten Bahnfahrten nur fünf bis acht Mark. Seine Monatsmiete betrug 36 Mark. Viel mehr als 100 Mark im Monat brauchte Jens für den Alltag nicht.
Wer wie er das System der Bahn noch genauer kannte, für den gab es weitere Sparmöglichkeiten. Wenn Jens mit Freunden ins Elbsandsteingebirge zum Klettern fuhr, löste er seine Fahrkarte nicht nach Bad Schandau, sondern er kaufte ein Ticket bis Decin hinter der tschechischen Grenze. Dann war es eine internationale Fahrkarte, die nur zwei Pfennig je Kilometer kostete statt der acht Pfennig im Netz der Deutschen Reichsbahn.
DA SEINE VORTRÄGE so gut ankamen, hatten die Frauen aus der Urania-Leitung eines Tages eine weitere Idee:
Wir machen einen kulinarischen Abend. Erst zeigst du ein paar Dias aus dem Kaukasus, dann gibt es russisches Essen und dann wieder ein paar Bilder. Und später machen wir das Gleiche mit Sibirien.
Der Abend wurde ein großer Erfolg, und beim
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