Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
versuchen.
Aus dieser, in keinem öffentlichen Manifest jemals niedergeschriebenen Lebenseinstellung war in Prenzlauer Berg, in der Hauptstadt der DDR , ein lebendiger Ort in einer erstarrten Republik gewachsen.
Hier war vieles anders, selbst die S-Bahn fuhr unter und die U-Bahn über der Straße.
Einige der jungen Leute hatten sich zusammengefunden und schrieben eigene Theaterstücke. Die Aufführungen fanden privat statt, auf engstem Raum: Fünfzig Gäste in einer Zweiraumwohnung waren keine Seltenheit, und die Schauspieler agierten auf drei Quadratmetern.
Andere experimentierten mit 8 -Millimeter-Film, Punks gründeten Kellerbands und spielten bei Hinterhoffesten, Künstler stellten ihre Bilder auf leeren Dachböden aus. Junge Dichter organisierten Lesungen ihrer Texte in Wohnzimmern. Etliche Frauen stellten Schmuck her, nähten Kleidung oder bastelten Kinderspielzeug. Viele verband eine gemeinsame Geschichte. Sie waren Studenten, die von den Universitäten geflogen, oder frustrierte Wissenschaftler, die aus politischen Gründen degradiert worden waren. Andere kamen aus den Friedens- und Umweltkreisen, die sich mit Beginn der achtziger Jahre gebildet hatten. Die Männer trugen oft wilde Bärte, langes Haar, grüne Parkas, Jeans und Jesuslatschen. Die Frauen färbten Stoffwindeln zu bunten Halstüchern.
Sie waren Gleichgesinnte, die sich untereinander erkannten, auch wenn sie nicht in Prenzlauer Berg, sondern in Friedrichshain, Pankow, Potsdam, Dresden-Neustadt, Halle, Leipzig-Connewitz oder vergleichbaren Stadtvierteln wohnten. Stets begegneten sie Menschen, die ähnlich fühlten, dachten und sprachen, deren Haltung sie teilten oder mühelos verstanden.
Wer sich nicht kannte, lernte sich unkompliziert kennen. Ohne dass man es immer wieder aussprechen musste, war man sich einig in der Ablehnung der Altherrenregierung, hatte aber gleichzeitig Sympathien für eine Idee vom Sozialismus, die offensichtlich im Alltag längst verloren gegangen war. Es gab etliche politische Schattierungen, für viele in diesem Milieu aber, vielleicht sogar für die meisten, war die Konsumgesellschaft im Westen kein erstrebenswertes Vorbild, sie schien ihnen keine besseren Lösungen zu bieten. Irgendwann in den Westen zu gehen war dennoch für manche eine Option, ein Notausgang, über den man aber nicht gern redete. Die Frage nach Gehen, Gegangenwerden oder Bleiben stand unentwegt im Raum, weil doch so viele gingen. Doch solange der Staat den persönlichen Freiraum nicht antastete, glaubten viele, es in ihrem Land aushalten zu können, zumindest eine gewisse Zeit noch. Denn irgendwann würde sich vielleicht etwas ändern. Bis dahin musste man bloß durchhalten.
SEIT DEN SIEBZIGER JAHREN hatten die Hinzugekommenen die Wohnungen, die keiner mehr wollte, weitgehend erobert, meist durch stille Hausbesetzungen. Still im Gegensatz zum Westteil der Stadt, wo die Besetzungen gern lautstark nach außen demonstriert wurden, mit roten oder schwarzen Fahnen auf den Dächern, stockwerkhohen Transparenten oder grellen Parolen auf den Hauswänden – bis die Polizei kam. Dann ging das Spektakel erst richtig los.
Im Osten der Stadt spielte sich das lautloser ab.
Es war fast unmöglich, aus der Provinz nach Ost-Berlin zu ziehen. Denn offiziell gab es keine freien Wohnungen, weil die Planvorgabe der Politik einen Leerstand nicht erlaubte. Die Verwaltung der Stadt hatte jedoch keinen wirklichen Überblick. Wo welche Wohnungen leer standen, darüber wussten die Menschen im Viertel besser Bescheid.
Wer von einer freien Wohnung hörte, zog einfach dort ein und legalisierte seine Besetzung im Nachhinein. Erst zahlte man ein paar Monate Miete und dann verhandelte man möglichst trickreich und geduldig mit der KWV , der Kommunalen Wohnungsverwaltung, bis man einen Mietvertrag nebst polizeilicher Anmeldung in den Händen hielt und keine Ordnungsstrafe mehr drohte. In manchen Straßenzügen bildeten sich auf diese Weise kleine Besetzerkolonien.
Jens hatte seine Wohnung auch so ergattert.
Zunächst war er in einer engen Studentenbude untergekommen. In der folgenden Zeit spähte er nach leer stehenden Wohnungen, wann immer er durch die Straßen in Prenzlauer Berg ging. Keine Gardinen, verdreckte Fenster und abends kein Licht waren untrügliche Zeichen.
In der Rykestraße wurde er fündig.
Jens fragte bei den Nachbarn, ob die Wohnung, die er im ersten Stock eines Hauses entdeckt hatte, wirklich unbewohnt war. Da sie bejahten, kehrte er noch mal wieder,
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