Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
auch unabhängige Umweltgruppen gebildet. Sie trafen sich in Gemeinderäumen der Kirche oder nutzten Keller von Pfarrhäusern, weil ihnen andere Treffpunkte verwehrt wurden. Der Regierung missfielen solche Initiativen.
Wie stark die Luft durch überalterte Kraftwerke und Industrieanlagen vergiftet wurde, merkten viele. Entsprechend großen Zulauf hatten die Umweltgruppen. Auch Jens wollte dabei sein.
Einen entscheidenden Anstoß hatte er schon als Elfjähriger in einem Forsthaus bei Templin bekommen. Dort lebte sein Onkel Ernst. Der war kein Revierförster, sondern forstlicher Standorterkunder, dessen Aufgabe es war, die Böden zu untersuchen und Karten zu erstellen, die zeigten, welche Bäume wo am besten gediehen. Darüber hinaus engagierte er sich als Ökologe und Ornithologe. Bei ihm erlebte Jens erstmals, wie aufregend es war, wilde Vögel in riesigen Japan-Netzen zu fangen und aus der Nähe zu betrachten.
Er begeisterte sich für diese Arbeit. Mit seinen Kinderhänden und schlanken Armen war er besser als ein Erwachsener in der Lage, in die kleinen Bruthöhlen der Eisvögel zu greifen, die manchmal auch fernab der Gewässer im Wald nisteten. Selbst den Jungvögeln konnten so Ringe angelegt werden. Bei den Streifzügen am Rande von Schilfgebieten lernte Jens, Vogelarten an der Stimme zu unterscheiden.
Mit dreizehn Jahren wurde er Mitglied der »Fachgruppe Ornithologie« im Leipziger Kulturbund. Jens organisierte Ausflüge zu Teichen, Sümpfen und Waldgebieten rund um seine Heimatstadt, in einer Gegend, die von Chemieanlagen, Braunkohlegruben und Leitungstrassen durchzogen wurde. Zu Hause las er Fachzeitschriften mit Titeln wie Der Falke und bettelte seine Eltern so lange an, bis sie diese abonnierten. Er lernte Landkarten zu lesen und mit Messtischblättern umzugehen. Manche dieser Karten studierte er so lange, bis er sie im Kopf hatte und sich die Wege vorstellen konnte.
Öfter saß Jens am Rande eines Tagebaus oder am Flutkanal und notierte sich, welche seltenen Wasservögel dort trotz der Industrieanlagen noch übrig geblieben waren. Für die Schule fertigte er beinahe wissenschaftliche Dokumentationen seiner Beobachtungen an.
Da sich sein großes Engagement herumsprach, durfte er schon als Schüler im Rahmen der landesweiten Brutvogelkartierung ein hundert Quadratkilometer großes Gebiet zwischen den Dörfern Brandis und Machern übernehmen und dort vier Jahre lang alle Brutvogelarten erfassen. Seine Ergebnisse flossen in den Brutvogelatlas der DDR ein.
Mit fünfzehn Jahren führte Jens schon selbständig Wandergruppen durch den Spreewald und beobachtete in dieser Niedermoor- und Auenlandschaft Vögel, Lurche und Kriechtiere.
JENS WAR ein sportlicher Typ, er spielte Fußball und Volleyball, machte Judo und gehörte der Sektion Ski der Betriebssportgruppe Chemie Böhlen an. Auf der Bezirksspartakiade gewann er Medaillen. Im Winter fuhr er Ski, im Sommer zeltete er und fuhr Kanu auf der Mecklenburger Seenplatte. Sein Klassenlehrer lobte, dass er seine so erworbene Fitness vorbildlich für die vormilitärische Ausbildung einsetze und dabei Bester wurde.
Für die Bewerbung an der Humboldt-Universität schrieb Jens – wie alle Schulabgänger, die auf einen Studienplatz hofften – das Mindestmaß an politischer Pflichterfüllung in seinen Lebenslauf. Dazu gehörten unbedingt Sätze wie: Zum 20. Geburtstag unserer Republik, am 7. Oktober 1969, wurde ich Pionier. Brav notierte er auch, dass er für die Klassenbibliothek und die FDJ -Wandzeitungen verantwortlich gewesen und zur Jugendweihe gegangen sei. Loyalitätsbekundungen aller Art waren wichtig und normal, problematisch wurde es, wenn man sie nicht leistete.
Sein Klassenlehrer lobte ihn in einem Empfehlungsschreiben, das zur Bewerbung für den Studienplatz beigelegt wurde, in ganz persönlichen Worten. Ihm sei aufgefallen, schrieb der Pädagoge, wie Jens sofort bereit sei , auftretende Probleme zu lösen, und dass er schon lange seinen unbedingten Willen und seine Liebe für den künftigen Beruf eines Biologen zum Ausdruck gebracht habe.
Genau wie Marie hatte auch Jens bis dahin versucht, alles richtig zu machen, und am Ende war es ihm tatsächlich gelungen, einen der raren Studienplätze für Biologie zu erobern.
DAS BEWERBUNGSSCHREIBEN, das Jens damals verfasst hatte, befand sich da schon in einer Aktenmappe, die über jeden Studenten an der Humboldt-Universität geführt wurde. Eine Kopie davon lag später in einer anderen Sammlung über Jens,
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