Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Der Projektor warf das erste Bild in beeindruckender Größe auf die von Jens weiß gestrichene Stirnwand. Es zeigte zur Erklärung seiner Route die Landkarte der Sowjetunion, die über seinem Bett hing.
Jens ließ die Dias lange stehen, er wollte seine Zuschauer nicht mit einer bunten Bilderflut überwältigen, sondern Zeit haben, von seiner Reise zu erzählen. Alle sollten wissen, dass es möglich war, sich durch Russland durchzuschlagen, trotz Verbot und strenger Kontrollen.
DIE TOUR in den Kaukasus hatte er mit seinem Freund Reinhard im Jahr zuvor unternommen. Jens erzählte offen von den Tricks, die sie hatten lernen müssen, um das Ziel auch wirklich zu erreichen:
Wir mussten im Transit nach Rumänien schon in Polen aus dem Zug steigen. Denn wir hatten erfahren, dass man auf der Fahrt durch Russland nicht mehr wie bisher aus dem Zug herauskonnte. Sie verriegeln neuerdings Fenster und Türen und man kann erst in Rumänien wieder aussteigen.
Sauerei!, kommentierte einer der Zuschauer, alle lachten.
Aber von Polen geht es ja auch weiter mit Regionalz ügen nach Russland. Die erste Schwierigkeit war, in Kiew die Fahrkarte für die Strecke nach Sotschi am Schwarzen Meer zu bekommen. Es gibt keine Wagen mit freien Sitzplätzen wie bei uns, es gibt nur Liegewagen mit Reservierung.
Wir dachten recht naiv, in der Schule haben wir doch Russisch gelernt. Also sind wir ganz einfach hin zum Fahrkartenschalter, und ich hab’ gesagt:
Daijtje mnje poshaluista adin billet do Sotschi – Ich hätte gern ein Billet nach Sotschi . Leider kam darauf sofort die abweisende Antwort: Aha! Ausländer! Gehen Sie zum Intourist-Schalter! Also gingen wir zum Intourist-Schalter. Da hieß es: Wo ist Ihr Visum? Wo ist Ihre Reisegruppe, wo ist Ihr Begleiter?
Nach den offiziellen Reiseregelungen für die Sowjetunion durfte man als Ausländer nur in einer Reisegruppe mit Aufpasser reisen. Nach einer Weile fanden sie eine junge Russin, die sie baten, für sie Fahrkarten zu kaufen. Aber die Frau hatte wohl nicht richtig verstanden, worauf es ihnen ankam. Sie ging zum Schalter und sagte:
Wir haben hier Gäste aus der DDR , können Sie denen vielleicht helfen?
Da blaffte die Bahnangestellte:
Wir haben denen doch schon gesagt, sie müssen zum Intourist-Schalter gehen!
Jens und sein Freund mussten also jemand anderes suchen und ihm in Ruhe erklären, dass er nicht sagen dürfe, die Fahrkarten seien für zwei Ausländer. Er müsse so tun, als ob er sie für sich selbst kaufe. Nach einer Stunde hatten sie es immer noch nicht geschafft. Sie fanden niemanden, der ihnen diesen Gefallen tun wollte. Es war viel schwieriger als erwartet.
Reinhard war schon ganz verzweifelt, da hab’ ich gesagt, weißt du was? Jetzt treten wir die Flucht nach vorn an. Ich stelle mich mal eine Zeit lang neben den Schalter und gucke genau zu, wie die hier Fahrkarten kaufen. Und da kam das Aha-Erlebnis: Die Russen auf dem Bahnhof in Kiew hatten beim Kauf ihrer Fahrkarten einen ziemlich rauen Ton drauf. Niemand sagte: Geben Sie mir bitte eine Fahrkarte. Das ging immer so: Zwei Fahrkarten her, aber dalli!
Also stellte ich mich einfach an einen der anderen Schalter, ich hatte richtiges Herzklopfen, und habe die Körperhaltung und den Kommandoton eines Russen imitiert, um diesmal nicht wieder als Ausländer aufzufallen. Sotschi! Dwe! Dawei! Und diesmal klappte es. Ich bekam die Fahrkarten!
Seine Erzählung hatte in der Runde Heiterkeit ausgelöst. Jens schob zwei neue Bilder in den Projektionsschlitten ein.
Wir sind mit dem Zug einen Tag und die ganze Nacht durch ans Schwarze Meer gefahren, bis Sotschi, das war die Endstation. Von dort sind wir mit dem Bus weiter nach Georgien, bis Suchumi, direkt am Schwarzen Meer. Dort hatten wir mehrere Anlaufpunkte. Die Adressen hatte ich von Leuten erhalten, die im Jahr davor in Georgien gewesen waren. An drei Abenden hintereinander waren wir in Suchumi eingeladen.
Am ersten Abend hat uns gleich der russische Busfahrer mit nach Hause genommen und uns seiner Familie vorgeführt. Es wurde ein langer Abend, an dem wir viel trinken mussten. Am nächsten Tag waren wir bei Georgiern zu Gast. Den dritten Abend verbrachten wir bei einer Familie, die aus dem abchasischen Gebiet stammte.
Wieder unterbrach ihn ein Zwischenrufer, ganz hinten im Raum.
Gib zu, da floss der Wodka doch in Strömen …
Jens lachte: Ja, wir wussten nie, wann Schluss sein wird. Sie fanden immer einen neuen Grund zum Anstoßen.
Er wechselte das Dia.
Wir sind
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