Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
die ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit begonnen hatte. Der Offizier hatte einen dicken Strich an den Rand des letzten Absatzes der Bewerbung gemacht. Dort, wo Jens geschrieben hatte:
Seit einem Jahr fotografiere ich und gestalte ich auch Diavorträge. Entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der wachsenden Bedeutung der Biologie für uns alle, ist es heute eine der dringendsten Aufgaben, unsere Umwelt zu erhalten und zu schützen. Hierbei möchte ich selbst mit Hand anlegen. Dazu ist eine genaue Kenntnis der biologischen Vorgänge und Zusammenhänge sehr wichtig.
Neben den Strich, auf der Höhe von Jens’ Worten möchte ich selbst mit Hand anlegen , hatte der Offizier ein rotes Ausrufezeichen gesetzt.
Kapitel 4 Das Berliner Zimmer
An einem Abend hatten Jens und Marie einige Leute ins Nachbarhaus eingeladen. Dort stand eine Wohnung leer, sie bot genug Platz für eine kleine private Diavorführung. Jens wollte die Bilder seiner Reise in den Kaukasus zeigen. Er hatte so etwas schon öfter gemacht, aber diesmal waren nicht nur ein paar gute Freunde und Bekannte sowie die jungen Leute aus dem Nachbarhaus dabei. Jens hatte auch befreundeten Studenten aus dem Westteil der Stadt Bescheid gegeben. Er hatte sie bei Veranstaltungen der Ost-Berliner evangelischen Studentengemeinde kennengelernt.
In den Räumen einer Kirchengemeinde in der Invalidenstraße trafen sich gut drei Dutzend Studenten aller Fachrichtungen aus Ost und West ein paarmal im Jahr, um miteinander zu reden. Sie nahmen sich Themen vor wie den Aufstand der Armenier oder Martin Luther King. Die Gruppe diskutierte bei den Treffen aber auch unbefangen aktuelle Ereignisse aus der Politik oder Umweltschutzfragen. Jens fand die Leute in der Studentengemeinde und die Gespräche sehr spannend. So hatte es sich ergeben, dass er zu einigen auch privat Kontakt hielt, und manchmal übernachteten ein paar der Besucher bei ihm, wenn sie ein Visum für mehrere Tage hatten.
Jens freute sich, dass sich die Freunde aus dem Westen für diesen Abend angekündigt hatten. Heute würde er ihnen viel erzählen können. Seit Tagen schon hatte er Bilder ausgesucht, die er zeigen wollte.
Marie hatte mit einer Freundin gekocht, Jens ein paar Flaschen »Rosenthaler Kadarka« und »Erlauer Stierblut« besorgt, Rotweine aus den sozialistischen Bruderländern Bulgarien und Ungarn.
Für all jene, die früh genug gekommen waren, gab es gekochten Wurzener Tafelweizen, eine Art Bulgur, mit Letscho, Tomatenmark und scharf angebratenem Hackfleisch, alles zusammengemischt in einem großen Topf.
Na? Schmeckt doch ein bisschen nach Kaukasus, oder?, scherzte Marie mit Anke, die mit einigen anderen aus West-Berlin schon am Nachmittag in der Rykestraße eingetroffen war. Sie mochte die West-Berlinerin mit den kurzen Haaren. Sie war genauso unternehmungslustig wie sie selbst. Anke erzählte ihr, sie freue sich schon auf eine Asienreise, die sie diesen Sommer machen werde. Dann würde sie auch viel fotografieren und sich im Herbst mit einem Dia-Abend revanchieren.
DIE LEERE WOHNUNG lag im Vorderhaus und ging um die Ecke bis in den Seitenflügel. Jens baute den Diaprojektor im sogenannten Berliner Zimmer auf. In vielen Altbauwohnungen der Berliner Arbeiterviertel gab es diesen großen Raum zwischen Seitenflügel und Vorderhaus, in den selbst tagsüber nur Dämmerlicht durch ein Fenster im Winkel zum Hof fiel.
In diesem Zimmer waren die Tapeten vergilbt, hell gebliebene Stellen markierten die Plätze, an denen einst Möbelstücke gestanden hatten. Die Stirnwand des großen Raums hatte Jens einige Tage zuvor kurzerhand mit weißer Farbe gestrichen, sodass sie eine riesige Projektionsfläche für seine Dias war. Marie und Jens waren sich sicher gewesen, dass der Raum für alle geladenen Zuschauer reichen würde. Doch es kamen viel mehr Leute, als sie erwartet hatten.
Jeder schien noch jemanden mitgebracht zu haben. Es wurde schnell eng und laut, viele Stimmen füllten den Raum. Jens schaute sich um, er kannte nicht alle der Anwesenden.
Das Essen war schnell aufgegessen, vom Wein hätte auch mehr da sein können. Aber die gut drei Dutzend Besucher, die sich auf Fußboden, Fensterbank, Matten und Kisten niedergelassen hatten, waren nicht deswegen gekommen. Eine Reise in den Kaukasus hatte noch keiner der Gäste gemacht. Bilder von jemandem, der selbst dort gewesen war, gab es sonst selten zu sehen.
Irgendwann schaltete einer die einzige Glühlampe im Zimmer aus.
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