Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
ging zurück, um sich sein Bücherregal anzusehen. Marie suchte sich einen kleinen Stapel Fotobände aus und setzte sich damit auf die Kiste vor dem Ofen. Sie lehnte sich an die Kacheln, in denen noch ein Hauch Restwärme vom Morgen gespeichert war. Von dem Feuer, das Jens eben in Gang gebracht hatte, war noch nichts zu spüren. Sie bemerkte die Lampe an der Decke, die wie ein umgedrehter Weidenkorb aussah.
Hast du diese Lampe selbst gemacht?, fragte sie ihn, als er mit dem heißen Tee hereinkam.
Er reichte ihr einen Tee, sie schloss ihre Hand um den warmen Becher.
Ja, hab’ ich. Das Geflecht wurde zur Abdeckung von großen Glasballonflaschen verwendet. Die Sektion Chemie an der Uni hatte etliche aussortiert. Aus einem der Körbe hab’ ich die Lampe gemacht. Die anderen habe ich als Nisthilfe mitgenommen, für Baumfalken.
Gibt es hier Raubvögel? Im Prenzlauer Berg?
Jens nickte.
Ja, es gibt Turmfalken, die leben gleich hier in der Nähe, am Wasserturm. Habichte und Sperber gehören auch zu den Raubvögeln in der Stadt. Aber Baumfalken sind selten, sie gibt es nur außerhalb der Stadt. Am liebsten an warmen Waldrändern mit einzeln stehenden großen Kiefern. Das war eine gemeinsame Aktion von Greifvogelexperten aus Ost- und West-Berlin, zusammen haben wir die Körbe ganz oben in die Baumkronen gehängt. Und es hat funktioniert. Die Baumfalken haben sie angenommen und darin gebrütet.
Er setzte sich zu ihr auf die Holzkiste.
MARIE TRANK ihren Tee, süß, heiß. Dann fragte sie: Woher nimmst du eigentlich den Mut, einfach in den Kaukasus zu reisen?
Jens nahm einen Schluck aus seiner Tasse.
Ich glaube, den hab ich schon als Kind gehabt.
Nur an ein einziges Mal könne er sich erinnern, als seinem Bewegungsdrang Grenzen gesetzt wurden.
Mit fünf oder sechs Jahren bin ich einmal alleine bei meiner Oma gewesen, ohne meine Eltern. Ich hatte mein erstes Fahrrad mit dabei. Sie ließ mich damit tagsüber draußen herumfahren. Abends habe ich erzählt, wo ich überall gewesen war. Sie regte sich auf: Da warst du doch zwanzig Kilometer weit weg mit dem Fahrrad, mein Gott, Kind! Und ich erwiderte: Aber wenn ich beim Hinfahren genau aufpasse, kenn’ ich doch den Weg. Und so finde ich immer wieder zurück. Aber sie war so schockiert, dass sie bei meiner Mutter anrief und bat, mich wieder abzuholen: Das kann ich nicht verantworten, der Kleine macht was er will.
Er schenkte ihr noch Tee nach.
Wenn ich eine Idee hab’, dann will ich sie auch realisieren! Und wenn man es einmal geschafft hat, weiß man doch, dass man es wieder kann. Ob du es wirklich schaffst, ist vielleicht noch offen. Damals als Kind hab’ ich geglaubt, das kann ich einfach.
Marie lächelte und rutschte etwas näher an ihn heran. Die Kiste, auf der sie saßen, war auf Dauer unbequem.
Jens redete einfach weiter.
Die meisten geben später als Erwachsene viel zu früh auf. Selbst wenn sie etwas wollen, probieren sie es nicht. Ich denk’ da anders. Wenn du was willst, mach es einfach, probiere es mit aller Kraft. Vielleicht klappt’s, vielleicht nicht, aber man muss es doch wenigstens versucht haben.
Jens sah sie an.
Man kommt immer nur so weit, wie man im Kopf auch ist.
Genau so habe er es auch in den Kaukasus geschafft. Irgendwann habe er mitbekommen, dass es eine Lücke gab. Wenn man auf dem heimatlichen Polizeirevier beim Beantragen eines Visums für Rumänien eine vorher gekaufte Fahrkarte für den Zug über Polen und die Ukraine vorlegte – anstelle der üblichen Strecke über die Tschechoslowakei –, dann erhielt man ausnahmsweise ein Transitvisum für die Sowjetunion.
Das gilt zwar nur für maximal drei Tage, aber so kann man den Zug in der Ukraine einfach verlassen und sich dann in der Sowjetunion so weit wie möglich an allen Kontrollen vorbei unerkannt durchschlagen.
Und zurück kommst du ja immer!, scherzte Marie.
Es gebe inzwischen einige, die wie er von diesem Schlupfloch wüssten. Jens erzählte ihr, dass er sich mit anderen, die so etwas schon gemacht hatten, so oft wie möglich treffe. Es gebe einen regen Austausch von Tipps und Informationen unter Bergsteigern, Trampern und Abenteurern, die in Städten wie Dresden, Leipzig, Halle, Jena oder Berlin zu Hause seien. Die ziehe es in den Kaukasus oder ins Pamirgebirge, da ihnen das heimische Elbsandsteingebirge und das Riesengebirge längst nicht mehr reiche.
Auf diese Weise habe sich im Laufe der Jahre eine Menge Wissen über lohnende Ziele, die besten Routen, die
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