Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
erhalten hatte.
In Berlin war sie bisher eher provisorisch untergekommen. Das hatte sie nicht weiter gestört, denn sie war ohnehin dauernd unterwegs. In den ersten Monaten teilte sie sich mit einer Kommilitonin ein Zweierzimmer im Studentenwohnheim. Dann bot sich zufällig eine neue Möglichkeit.
Zu Beginn ihres Studiums erhielt sie, wie die anderen Studenten des ersten Semesters, die Aufgabe, irgendein alltägliches, charakteristisches Motiv in der Stadt zu zeichnen. Als sie eines Nachmittags in einem Hinterhof saß und eine alte Remise skizzierte, kam ein älterer Mann auf sie zu, und nach einem kurzen Gespräch zeigte er ihr ein Zimmer in seiner Wohnung, in dem sie zur Untermiete wohnen könnte, wenn sie wollte. Sie willigte gleich ein, denn das Zimmer war hell und hatte einen netten Ausblick. Zunächst freute sie sich über ihren ersten eigenen Wohnsitz, aber da der Vermieter auffällig oft unter irgendeinem Vorwand bei ihr anklopfte, zog sie lieber wieder aus.
Als sie Jens in der Dunkelkammer traf, hatte sie sich gerade mit einer Handvoll Obstkisten und ein paar Büchern in der Wohnung einer Freundin in Pankow einquartiert.
Der Kontrast zwischen dem komfortablen Wohnhaus ihrer Eltern in Babelsberg und den zerfallenden Mietskasernen in Prenzlauer Berg war gewaltig. Im ehemaligen Berliner Arbeiterkiez hatte Marie noch keine Wohnung mit Heizung, fließend Warmwasser oder Dusche gesehen, so wie sie das von zu Hause gewohnt war. Oft gab es gerade einmal einen kleinen Elektroboiler in der Küche und einen Kohleofen im Bad, mit dem man das Wasser für die Wanne erhitzen konnte. Jens’ Wohnung hatte nicht einmal ein Bad.
Aber der fehlende Komfort schreckte Marie nicht, auch nicht, dass sie fast jeden Tag Kohlen die Treppen hochschleppen musste, wenn sie es warm haben wollte. Sie mochte an diesen Wohnungen das Provisorische, Unfertige, weil es bedeutete, dass man dort vieles von dem tun und lassen konnte, was man wollte. In Prenzlauer Berg war, von der Staatsführung so nie gewollt, ungeplant ein Freiraum für junge Leute entstanden, wie es ihn sonst in der Republik kaum gab.
Bei Jens, am Anfang der Rykestraße, gleich am alten Wasserturm von Prenzlauer Berg, war Marie nun mitten in dieser Welt angekommen.
ANSTATT die alten Mietskasernen der Innenstadt zu renovieren, ließ die Regierung lieber neue Viertel mit Plattenbauten errichten, meist am Stadtrand. Viele Familien hatten deshalb die Gegend verlassen, trotz der Nähe zum Zentrum. Sie bevorzugten die komfortablen Wohnungen in den neuen Hochhäusern von Marzahn und Hellersdorf.
Die Besitzer der Häuser in Prenzlauer Berg waren großteils in den Westen gegangen. Ihre Gebäude waren seither zumeist in der Obhut der einzigen privaten Wohnungsverwaltungen der Stadt, die Wolfgang und Hendrik Horstman und Wilfried Alscher gehörten. Für Alscher-Häuser brauchte man zwar keine Wohnberechtigung der Wohnungswirtschaftsabteilung des Stadtbezirks, doch sie waren verrufen, weil die Instandhaltung der rund hundert Jahre alten Gebäude, die oft noch Kriegsschäden aufwiesen, stark vernachlässigt wurde und man mit den Mietern nicht besonders sanft umging. Aber die Wohnungen waren billig: 15 Mark Miete im Monat pro Zimmer waren keine Seltenheit. Das lockte junge Leute an, nicht nur aus Berlin, auch aus der Provinz zogen sie in diesen Teil der Stadt, wenn ihnen das trotz der strengen Zuzugsregelungen für Nicht-Berliner gelang. Hier trafen sie auf die Alten, die geblieben waren, weil sie nicht mehr umziehen wollten oder es einfach nicht mehr schafften. Es gab verarmte Witwen, die ihre Männer schon im Krieg verloren hatten, einige von ihnen hausten in verrotteten Wohnungen, auch in solchen ohne funktionierende Toiletten oder Bäder. Im Winter froren die Leitungen der Klos auf halber Treppe obendrein häufig ein.
Die Fassaden der einst besseren Häuser waren bereits stark verwittert. Die Verzierungen der Fenstersimse bröckelten, die Stuckfiguren verloren ihre Gesichter. Die Balkone waren oft so baufällig, dass sie von der Feuerwehr entfernt wurden oder von selbst abfielen. Die Leute im Viertel nannten es Balkonsturz. Hier und dort wuchsen kleine Bäume aus den leeren Fensteröffnungen verfallener Wohnungen.
Es gab immer wieder Gerüchte, dass die Obrigkeit die alten Häuser in Prenzlauer Berg abreißen lassen wollte. Doch als ein weithin sichtbares Wahrzeichen des Viertels, der letzte Gasometer der alten Städtischen Gasanstalt, 1984 gesprengt werden sollte, um auf dem
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