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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wensierski
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gefährlichsten Kontrollpunkte oder gastfreundliche Menschen in der Szene verbreitet. Auch Jens hatte solche Kontakte und wusste, wo in der Republik er sich an wen mit welcher Frage wenden konnte. Sie waren nicht sehr viele, aber alle, die es wagten, unerkannt durch die Sowjetunion zu reisen, verband das Gefühl, einen Spielraum jenseits der reglementierten Möglichkeiten entdeckt zu haben und ihn zu nutzen – ein Stück Freiheit.
    Manche sind bis nach Sibirien zum Baikalsee und weiter gekommen, manche geraten aber auch schon nach zwei Tagen in eine Kontrolle, und alles ist vorbei. Und andere bekommen gar kein Durchreisevisum. Aber das ist immer noch besser, als es gar nicht erst zu versuchen!
    Marie wusste bisher nichts von den Möglichkeiten, die engen Grenzen der Republik über die unmittelbaren östlichen Nachbarländer hinaus auszudehnen. Sie hatte alle Länder, in die man auf eigene Faust reisen durfte, besucht, einige schon mehrmals. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien. Damit hatte sie die Grenzen des Erlaubten erreicht.
    Dass da mehr möglich sein könnte, fand sie aufregend. Warum nicht zusammen mit diesem Mann?, schoss es ihr durch den Kopf, dieser Mann, der sich in Abenteuer stürzte, die ihr gefielen.
    Sie erzählte Jens mehr von ihrer letzten Tramptour durch Bulgarien und Rumänien, von den Wildpferden, von der Ungewissheit der Straße und den Nächten unter freiem Himmel, von der Zeit, die sich so unendlich dehnt, wenn man keinen Plan für den nächsten Tag hat.
    Weißt du, dass ich als Kind im Sommer immer draußen auf dem Balkon schlafen wollte?
    Spätestens mit dreizehn Jahren hatte Marie ihr Bettzeug und die Matratze, wenn irgend möglich, ins Freie geschafft. Bei Tagesanbruch wurde sie wach, meist in der Morgensonne, manchmal überraschte sie auch der Regen. Es war ihr egal.
    Als sie noch jünger war und mit der Familie von Potsdam zum Zelten nach Polen an die Ostseeküste fuhr, mied ihr Vater die organisierten Plätze und baute das Zelt lieber versteckt im Wald auf.
    Wenn ich als Kind mit dem Fahrrad unterwegs war, dann habe ich es geliebt, immer wieder andere Wege auszuprobieren, wenn ich abends nach Hause fuhr. Und als ich alle Wege kannte, hab’ ich aus meinem Simson-Rad ein Pferd gemacht. Ich hab’ links und rechts am Lenker Gummischlaufen angebracht und versucht, nur noch über diese Zügel zu lenken.
    Marie lachte, sie gestikulierte bei ihren Erzählungen wild mit den Armen und machte Jens vor, wie das aussah.
    Später, erzählte Marie weiter, sei sie dann wirklich auf Pferden geritten. Es sei ihr ganz leicht gefallen.
    Jens berichtete Marie von seinen Ferien als Kind mit den Eltern und Großeltern im Sommer, von Zeltlagern, Paddeltouren im Faltboot, vom Skifahren im Winter. Die Erwachsenen hatten ihn dabei wenig beaufsichtigt, sondern oft ganz allein umherstreifen lassen.
    Der Tee war längst ausgetrunken, der Kachelofen strahlte wieder Wärme ab. Marie und Jens erzählten weiter Geschichten von ihren Wanderungen. Von Herausforderungen und Ruhe, von Einsamkeit und überraschenden Begegnungen, vom Ausgesetzt- und Aufgehobensein in der Natur.
    Irgendwann schwiegen beide in dieser langen Nacht. Marie schob die Teetassen auf der russischen Holzkiste einfach beiseite, rückte ganz nah an Jens heran und legte ihren Kopf an seine Schulter.
    AM NÄCHSTEN MORGEN schlief Jens noch tief, als sie neben ihm aufwachte. Vom Bett aus sah sie den Spiegel an der Wand neben dem Fenster. Sie stand auf, aber als sie auf den Spiegel zutrat, mochte Marie nicht hineinschauen. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Sie konnte nicht deuten, was passiert war. Vielleicht würde ihr Gesicht etwas verraten, was sie jetzt noch nicht wissen wollte. Sie sah sich noch einmal um in dem Zimmer, das sie bis gestern nicht gekannt hatte. Diese karg eingerichtete Wohnung, die einen nicht festhielt, aus der man jederzeit aufbrechen konnte.
    In diesem Moment wusste Marie, es war hier bei Jens alles so, wie sie selber gerne leben wollte.

Kapitel 2 Der Prenzlauer Berg
    Marie zog nach wenigen Wochen in die Rykestraße ein.
    In Wahrheit war dafür weder ein großer Entschluss noch ein richtiger Umzug nötig. Sie war seit jenem Abend immer häufiger bei Jens geblieben, und viele Dinge besaß sie ohnehin nicht.
    Marie war 24 Jahre alt und hatte gerade erst damit begonnen, sich in Berlin einzuleben. Sie hatte so lange bei ihren Eltern in Babelsberg bei Potsdam gewohnt, bis sie die Zusage für die Kunsthochschule

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