Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Vogelschutzgebiet Kooser See, wo alljährlich Zehntausende von Zugvögeln eine längere Flugpause einlegten. Zusammen mit einem Freund hatte er die Wohnung einfach besetzt.
Jens’ Aufgabe war es im vergangenen Sommer gewesen, auf einem etwa 100 Kilometer langen Streifen entlang der Ostsee seltene Vogelarten wie den Sandregenpfeifer zu dokumentieren. Er versuchte, jedes einzelne Paar einzufangen und zu markieren. Damit er an der Küste entlangfahren konnte, stand ihm den ganzen Sommer ein Motorrad zur Verfügung. Eine schönere Arbeit konnte er sich kaum vorstellen. Dafür auch noch Geld zu bekommen, das fand er einfach genial.
DIE ZUGFAHRT nach Greifswald zog sich hin. Jens sah aus dem Fenster. Er dachte an das Gespräch mit seinen Eltern.
Ich will mich durch Ängste nicht einengen lassen, ich will auch nicht übermäßig vorsichtig sein, ging es ihm durch den Kopf.
Die Landschaft, die Jens am Zugfenster vorbeiziehen sah, hatte sich verändert. Die flachen brandenburgischen Kiefernwälder waren einer Hügellandschaft gewichen. Es war nicht mehr weit bis zu seinem Ziel.
Vom Hauptbahnhof ging er zu Fuß. Noch bevor er in den Hof des Hauses einbog, blickte Jens an der Fassade nach oben. Hinter den Fenstern im vierten Stock, wo sein Zimmer lag, sah er kurz hintereinander mehrere Male Blitzlicht aufleuchten. Wer fotografiert in meinem Zimmer? Er ging schnell auf die Haustür zu.
Im Türrahmen stand ein Mann. Er trug unauffällige Kleidung und einen kurzen Haarschnitt, Jens wusste sofort, dass dies kein Hausbewohner war. Der Mann machte sich im Eingang breit.
Hier können Sie jetzt nicht rein!
Warum nicht?, wollte Jens wissen. Ich wohne hier!
Der Mann starrte über Jens hinweg und versperrte ihm weiter den Eingang.
Sicherungsmaßnahmen. Es ist jemand aus dem Gefängnis ausgebrochen.
Jens ließ nicht locker.
In welcher Etage wohnt denn diese Person?
Er bekam zu seinem Erstaunen sogar eine Antwort.
In der zweiten.
Na, ich wohne in der vierten Etage, das stört mich nicht, da kann ich ja vorbeigehen.
Jens hatte da schon eine Tür klappen hören. Er versuchte, die Schritte der Personen zu zählen, die im Treppenhaus herunterkamen.
Nein, niemand darf die Treppe hochgehen!
Mehr konnte Jens dem Stasi-Mann in Zivil nicht entlocken. Er ließ nicht mit sich handeln.
Sie müssen aus Sicherheitsgründen hier unten im Hof warten, Bürger!
Jens lauschte. Zwei, vier, sechs, acht – pro Etage zwei halbe Treppen. Sie kamen tatsächlich aus dem vierten Stock, sicher aus seiner Wohnung! Ohne Jens weiter zu beachten, verließen mehrere Männer mit Koffern unterschiedlicher Größe das Haus.
Ihm war klar, was dort oben geschehen war. Die Staatssicherheit hatte seine Abwesenheit genutzt. Als er in die Wohnung eintrat und sich umsah, zeigte sich, dass seine Besucher keinerlei Spuren hinterlassen hatten. Jens hatte beim letzten Besuch alles auf dem Boden liegen gelassen, so ausgebreitet lag es auch noch immer, und das hatten sie offenbar fotografiert. Seine Landkarten vom Kaukasus, sein Fernglas, Teile seiner Ausrüstung für das Übernachten im Freien, Kochgeschirr, sein alter Rucksack. Auf dem Schreibtisch lagen ein paar Briefe. Die Wohnung hatte er im Sommer eigentlich nur zum Schlafen benutzt. Als Bett diente eine Matratze auf dem Fußboden.
Am nächsten Morgen packte er all die Dinge ein, von denen er meinte, sie könnten für die Reise in die Mongolei wichtig sein, und kehrte zurück nach Berlin.
SEINE ZEIT, über die Jens nun, da er nicht mehr studierte, völlig alleine bestimmen konnte, nutzte er noch intensiver für die Reisevorbereitungen. Er verschlang Bücher über die Mongolei, zeichnete in Ermangelung von Kopiergeräten Karten ab, merkte sich die Namen von Bergketten, Seen und Flüssen und legte eine Liste von Städten und Orten mit Landepisten an. Außerdem eine Liste mit den aus militärischen Gründen gesperrten Städten in der Sowjetunion. Diese Städte galt es zu meiden.
Er begann, mongolische Vokabeln zu lernen.
Gleichzeitig bereitete er seine nächsten Vorträge in der Urania vor. Die Themen waren bereits öffentlich im Programm angekündigt: Vom Baikal in die Berge und Wüsten Mittelasiens, Streifzüge durch Naturschutzgebiete der DDR , Seevogelschutz an der Ostsee und Naturschutz gestern, heute, morgen.
AN EINEM regnerischen Frühlingstag Ende April hatten der Hauswart und sein Sohn in der Rykestraße Besuch bekommen. Der Besucher befragte ihn in seiner Eigenschaft als Hausbuchbeauftragter ohne
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