Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
sitzen zu sehen gab Jens Mut. So sprach er weiter.
Meine Vorstellungen gehen dahin, dass jedem Studenten die Entscheidung überlassen werden sollte, welche Fächer und Vorlesungen er belegt, damit er den größten fachlichen Wissenszuwachs erreicht.
Jens war sich im Klaren darüber, dass keine Aussicht bestand, eine vielköpfige Kommission, die ihr Urteil offensichtlich schon gefällt hatte, davon zu überzeugen, ihre Meinung noch einmal zu ändern. Sie fühlten sich augenscheinlich etwas unwohl und es war ihnen womöglich sogar peinlich. Doch das änderte nichts daran, dass sie drauf und dran waren, nicht nur seine studentische Existenz, sondern sein ganzes zukünftiges Berufsleben zu zerstören. Er fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Eine solche Kommission würde niemals zugestehen, sich geirrt zu haben. So viel Einsicht hatte er ins System, und alle Versammelten hier vertraten in diesem Moment genau dieses System.
Nein, dachte er, sie waren das System. Deswegen funktionierte es.
Mit seinen Vorstellungen von einem freieren Studium mochte Tembrock – und vielleicht auch andere – heimlich sympathisieren. Doch hier ging es darum, dass Jens vor der Kommission kriechen sollte. An den versäumten Russischstunden allein konnte es nicht liegen. Welche Rolle spielte sein Engagement im Naturschutz oder in der evangelischen Studentengemeinde? Er wusste es nicht.
Sie wollten in diesem Land keinen unabhängigen Verhaltensforscher, sie wollten aus ihm einen nützlichen Biologen machen, der ihnen helfen sollte, etwa die Probleme der industriellen Tierproduktion in den Griff zu bekommen.
Kollegin Erdmann unterbrach ihn bei seinen Gedanken.
Noch etwas. Wieso maßen Sie sich an, unter Ausnutzung der großzügigen Studienbedingungen und ohne Rücksprache mit der Sektionsleitung eine populationsökologische Studie über den Steinadler in den Alpen aus einem Verlag in München zu bestellen? Was glauben Sie eigentlich, wann Sie das nächste Mal in die Alpen kommen?
Jens versuchte, ruhig zu bleiben.
Es ging mir um die wissenschaftliche Methodik. Da ich den Aufsatz nicht kopieren konnte, war es die einzige Chance, an ihn heranzukommen. Es gibt in der Sektion Bestellkarten, mit denen kann man sich über unsere Bibliothek diese Fachaufsätze kostenlos bestellen. Ich muss doch in zwei Jahren als Wissenschaftler selbständig arbeiten und forschen. Wenn ich das während des Studiums nicht lerne, wann denn sonst? Was haben Sie dagegen? Sie müssen doch nicht jemanden bestrafen, bei dem ein Feuer brennt für sein Fach!
Professor Tülsner, der Vorsitzende der Disziplinarkommission, ergriff wieder das Wort. Er klang nun hochoffiziell:
Was in welchem Zeitraum zu studieren ist, wurde auf der Grundlage der Abschlussanforderungen festgeschrieben und ist für jeden verbindlich. Die Position des Studenten ist nicht zu akzeptieren. Er hat die Pflichten eines Studenten trotz größter Freizügigkeit der Sektion nicht wahrgenommen, weder was seine fachlichen noch was seine gesellschaftlichen Aktivitäten betrifft. Er sollte über Ursache und Wirkung nachdenken, wenn das Urteil der Kommission erfolgt. Die Sitzung ist damit beendet.
Drei Wochen später lag ein Umschlag im Briefkasten. Jens wusste schon vor dem Öffnen, was drinstand.
»Die Disziplinarkommission hat einstimmig entschieden, dass Sie das Recht, an einer sozialistischen Hochschule zu studieren, durch die Gesamtheit der Pflichtverletzungen verwirkt haben. Wegen Verletzung der §2 Abs.1a,b,c und e werden Sie in Anwendung des §16 Absatz 1d der Disziplinarverordnung mit sofortiger Wirkung vom Studium ausgeschlossen. Ein Antrag auf Reimmatrikulation könnte nach angemessener Frist von mindestens zweijähriger Bewährungszeit in der materiellen Produktion geprüft werden.«
Kapitel 8 Die Einladung
Die Runde am Küchentisch in der Rykestraße lachte herzlich. Jens’ Eltern aus Leipzig waren da. Seine Mutter hatte gerade über ihren letzten Besuch im Winter gescherzt. Da hatte Marie noch nicht mit Jens zusammengewohnt. Eine Fensterscheibe in der Küche war kaputt gewesen, und ihr Sohn hatte sie nur notdürftig mit Zeitungspapier geflickt. Jens hatte damals versucht, ein guter Gastgeber zu sein, und eigens Holunderbeerensuppe gekocht, eines seiner Lieblingsessen aus Kindertagen. Dazu gab es Zwieback. Die Beeren hatte er im Herbst bei einem Ausflug in Buch am Rande Berlins gesammelt und zu Sirup verarbeitet.
Es sei so unglaublich kalt in der Wohnung gewesen,
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