Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
aber sie habe sich nicht beschwert, erzählte seine Mutter, bis ihr hier am Tisch ganz plötzlich der Löffel aus der zitternden Hand gefallen und der dunkelrote Holunderbeersaft an die Küchenwand gespritzt sei.
Marie kannte diese Geschichte noch nicht, aber sie fand sie typisch für Jens. Lachend warf sie ein: Aber Jens hat den Berliner Winter gut überlebt!
Seine Eltern wollten von ihrem Sohn wissen, ob er nach dem Rausschmiss an der Uni ihre Unterstützung brauche.
Das überlebe ich auch , antwortete er ihnen. Es laufe doch mit seinen Vorträgen an der Urania ganz gut. Inzwischen habe er sich eine Steuernummer besorgt und ein eigenes Konto für die Honorareinnahmen angelegt. Und das Wichtigste: Er habe sogar eine staatliche Zulassung als freiberuflicher Referent erhalten. So könne er nun offiziell dem nachgehen, was er am liebsten mache: reisen, fotografieren und dann davon anderen Menschen erzählen.
Sie wüssten doch, er benötige sonst nur wenig Geld zum Leben, er komme schon aus.
Außerdem habe ich Angebote, im Seevogelschutz an der Ostsee zu arbeiten. Dort läuft ein wichtiges ökologisches Forschungsprojekt, an dem ich gern mitwirken will. Ich kann da mehr lernen als im Hörsaal, und was ich verdiene, reicht für mich völlig aus. Meine Zweitwohnung in Greifswald kostet fast nichts, und ich kann ein Motorrad, das dem Institut gehört, umsonst nutzen.
Sein Vater wollte etwas anderes wissen.
Was wird nun aus deinem Traum, Biologe zu werden, Junge?
Jens zögerte einen Moment mit der Antwort.
Meinen Einspruch haben sie abgelehnt.
Sein Vater runzelte die Stirn.
Dann bekommst du nie mehr eine staatliche Position als Biologe.
Jens hatte auch darauf eine Antwort parat.
Aber so muss ich mich auch nicht ein Leben lang täglich mit dem Kompromiss am Arbeitsplatz herumschlagen. Ich wollte doch nie zu denen gehören, die an der Macht beteiligt sind. Ich will Freude an meinem Beruf haben. Jetzt kann ich freischaffend genau das tun, was ich machen will, und nicht mehr das, was ich machen muss. Das könnte doch in Zukunft auch funktionieren, vielleicht sogar noch besser. Ich komme ständig mit Wissenschaftlern meiner Fachrichtung in Kontakt, bis in die Sowjetunion hinein.
Er nahm Maries Hand.
Wenn ich mit Marie in die Mongolei reise, dann kann ich dort eigene ornithologische Forschungen machen. Ich kann nun viel weiter und länger reisen als bisher. Im Grunde habe ich sogar Freiheit dazugewonnen.
Seine Mutter lächelte in sich hinein, sein Vater guckte skeptisch. Wirklich überzeugen konnte Jens die beiden nicht von diesen Plänen. Sie befürchteten, dass hinter der Zwangsexmatrikulation mehr steckte als nur versäumte Russischstunden. Für seine Mutter war der Rauswurf aus der Uni ein deutliches Signal, dass vielleicht noch mehr kommen könnte .
Jens wusste von dem Freund einer Cousine, der aus politischen Gründen inhaftiert und verurteilt worden war. Daraufhin habe sie ihn neulich während eines Hafturlaubes geheiratet, nur damit sie sich alle paar Monate im Besucherraum des Gefängnisses sehen können. Vorher durfte sie ihn dort überhaupt nicht besuchen.
Jens wollte noch etwas klarstellen.
Ich will auf keinen Fall zur Bewährung in die Produktion. Ich kenne einen Ex-Studenten, dem haben sie dann nach einem Jahr Braunkohletagebau noch eins drauf gegeben und ihm mitgeteilt, er habe sich noch immer nicht genug bewährt. Worauf soll ich mich da verlassen?
Sein Vater nickte verständnisvoll.
Auf uns kannst du dich verlassen, aber sei trotzdem vorsichtig, Junge.
Jens sah seine Eltern lange an.
Keine Sorge. Einen Ausreiseantrag werde ich nicht stellen.
Jens glaubte, seine Eltern beruhigen zu müssen.
Das kommt für mich nicht infrage. Vom Tag der Antragstellung an gibt es jahrelang kein richtiges Leben mehr. Für mich nicht und auch für alle anderen nicht, mit denen ich zu tun habe. Auch ihr würdet für meine Entscheidung mehr oder weniger bestraft. Das möchte ich niemandem zumuten.
Jens hatte erlebt, wie es den ganzen Freundeskreis spaltete, wenn jemand einen Ausreiseantrag stellte.
Ich habe von oppositionellen Gruppen und selbst von Leuten in meinem eigenen Umweltkreis immer wieder gehört, dass mancher, der eine Ausreise beantragt hatte, von der Gruppe wie im Bekanntenkreis nur noch mit spitzen Fingern angefasst wurde.
Schließlich zeige man mit dem Ausreiseantrag, erklärte er seinen Eltern, dass man hier im Lande nichts mehr verändern, sondern »einfach« nur noch rauswolle. Damit sei
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