Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
ich also wirklich das Gefühl, kulturlos zu sein. Später habe ich das etwas anders gesehen.
Jens pflichtete ihm bei.
Viele Leute bei uns zu Hause sind so eng in ihrem Denken. Nicht nur in Leipzig. Darum bin ich jetzt so gerne hier.
Für einen Augenblick war es still zwischen ihnen. Galsan stand auf und ging aus dem Zimmer. Sie hörten, wie in der Küche ein Messer gewetzt wurde. Kurz darauf erschien Galsan in der Tür, einen Blechteller mit Teigfladen und getrockneter Pferdewurst in der Hand, sah zu Jens und sagte:
Lebendig sein heißt, in Bewegung zu sein, und wenn deine Welt eingezäunt ist, dann liegt es nahe, dass du diese Grenzen überwinden willst.
Wenig später kam auch Haasa, sie brachte Nudeln und eine riesige Portion gesottenes Fleisch.
Galsan erzählte von der Zeit, als er mit achtzehn Jahren am Berliner Ostbahnhof angekommen war.
Was mir zuerst auffiel: Alles war genormt und geregelt. Die Bäume waren geschnitten, die Straßen und Plätze, die Häuser, alles, was ich mit den Augen sah, hatte geometrische Formen. Mir fehlte das Runde, das Fließende. Und so schien mir auch das Leben vorgeformt, ausgeschildert und gestempelt. Die ersten Vokabeln, die ich lernte, standen groß auf den Schildern, sie hießen »nicht« und »verboten«.
Und dann lernte ich, dass die Menschen immer keine Zeit hatten. Das kannte ich nicht. Als der Himmel die Zeit schuf, hat er doch davon genug geschaffen. Wir finden, es gibt unendlich viel Zeit. Ihr glaubt, ihr hättet überhaupt keine Zeit, und jagt ihr bis zum Tod hinterher. Das ganze Leben ist verplant, voller Termine, da bleibt vom eigentlichen Leben wenig.
Wenn ihr in die Steppe kommt, setzt euch hin, auf die Erde, wie ich es auch immer wieder mache. Nein, besser, ihr legt euch auf die Erde. Seht in den Himmel über euch und spürt in der Weite der Steppe diese große Ruhe.
Nach dem Essen stand Jens auf, ging in den Flur und öffnete eine Seitentasche an seinem Rucksack. Er zog die topografische Karte der US Air Force heraus und zeigte sie Galsan. Der beugte sich erstaunt über die wirren Linien, die Berge, Flüsse und wenigen Straßen in der mongolischen Wildnis.
Daran wollt ihr euch orientieren?
Jens nickte, es habe ihn einige Mühen gekostet, diese Karte zu bekommen.
Warum haltet ihr euch nicht an den Lauf der Sonne? Ich habe großen Respekt vor dem Wagnis, das vor euch liegt, aber es ist nicht ungefährlich, sich ohne Kenntnis der Region im Land zu bewegen.
Es gibt unzählige Möglichkeiten, sich zu verirren, es gibt Bären und Wölfe im Norden des Landes, und es gibt doch auch einige Kontrolleure des Staates, die Natschalniks, die Sumonchefs, vor denen solltet ihr euch in Acht nehmen. Aber mein Volk, die Tuwa, sind herzliche Menschen, auch die anderen Stämme tragen Neugier und Freude im Herzen. Wenn ihr geht, ist es gut, ohne Angst zu gehen.
Jens und Marie versicherten ihrem Gastgeber, dass sie wilde Tiere nicht schrecken würden und dass sie für den Fall von Kontrollen alle notwendigen Ausweise dabeihätten. Sie hätten Zeit genug, sich im Land treiben zu lassen. Jens habe sogar die Adresse eines Studenten aus der Mongolei dabei, den sie besuchen könnten.
Marie wollte noch etwas anderes wissen.
Wir wollen am Rande der Stadt zelten und das Naadam-Fest erleben.
Galsan nickte erfreut.
Es ist das größte Volksfest der Mongolei, es ist ein großes Kräftemessen, ihr dürft es nicht versäumen.
Er bot den beiden an, während des Festes bei seiner Familie zu wohnen, statt womöglich im Regen ihr Zelt aufzubauen.
GALSAN UND seine Frau mussten am nächsten Morgen sehr zeitig das Haus verlassen und die Kinder mussten zur Schule, deshalb gingen alle früh ins Bett. Marie und Jens rollten ihre Matten im Wohnzimmer aus. Kurz vor dem Einschlafen hörte Marie noch, wie Haasa den Kindern ein Lied vorsang. Sie fragte Jens:
Warum hast Du ihm nicht gesagt, dass wir noch nach China wollen?
Jens antwortete durch das Dunkel:
Galsan glaubt nicht einmal wirklich, dass wir es durch die Mongolei schaffen. Ich bin sicher, dass wir beide auf der Chinesischen Mauer stehen werden. Wir haben es ja auch bis hierhin geschafft. Wenn wir aber jetzt schon von China reden und zur chinesischen Botschaft gehen, fliegen wir vielleicht auf, und dann würden wir ganz sicher nach Hause geschickt. Also lass uns erst durch die Mongolei reisen, dann versuchen wir, nach China zu kommen.
AM NÄCHSTEN MORGEN sahen sich Marie und Jens Ulan Bator an. Obwohl es die Hauptstadt des Landes
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