Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
war, gab es selbst im Stadtzentrum kaum hohe Häuser. Auffällig waren allenfalls ein paar relativ schmucklose Betonbauten für Behörden, die in den vergangenen Jahrzehnten nach sowjetischem Vorbild errichtet worden waren.
Sie spazierten stundenlang durch die Stadt. Auf den großzügig angelegten Straßen waren wenige Autos und Lkws unterwegs, sie bewegten sich beinahe noch gleichberechtigt zwischen Reitern und Viehkarren. Marie und Jens besichtigten einen kleinen buddhistischen Tempel mit einer goldenen Buddhastatue und besuchten das Nationalmuseum, wo neben vielen anderen Dingen auch die Waffen der Krieger von Dschingis Khan gezeigt wurden. Sie betraten Geschäfte, in denen es nur wenig zu kaufen gab, sahen Regale, in denen lediglich Mehl, Zucker und Dauerbackwaren standen. Sie probierten in Fett gebackene süße Klöße. Marie erschrak über einen großen Metallkorb voller gehäuteter Ziegenköpfe, deren geöffnete Augen sie anstarrten.
Als die beiden zurück in Galsan Tschinags Wohnung waren, machte Jens am Fenster ein Bild vom Sonnenuntergang über der Stadt. Unten im Hof sah er noch etwas anderes, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Polizist sprach zu einer Gruppe von Hausbewohnern, die im Halbkreis um ihn herum standen. Jens drückte auf den Auslöser. Einen Moment später blickte der Polizist hoch. Es dauerte nicht lange, da klingelte es an der Wohnungstür. Galsan öffnete, es war der Uniformierte. Sie redeten ein paar Minuten miteinander, und Jens hatte den Eindruck, dass der Wortwechsel dabei heftiger wurde.
Dann kam Galsan zurück ins Wohnzimmer.
Es ist alles in Ordnung. Er wollte wissen, ob ich Besuch aus dem Ausland hätte. Jeder Ausländer brauche eine Einladung. Ich habe ihm erzählt, dass ihr nur auf der Durchreise seid und zu einer Delegation gehört.
Jens dachte an das Papier, das er selbst getippt hatte. Was in der Volkspolizeidirektion in Prenzlauer Berg geklappt hatte, dass die Einladung für echt gehalten wurde, würde hier in der Mongolei kaum funktionieren, wenn Kontrolleure sich das Schreiben einmal genauer ansahen. Hoffentlich war es nicht zu riskant, bis zum Ende des Naadam-Festes in der Stadt zu bleiben.
GALSAN HATTE ihnen erzählt, dass dieses sportliche Kräftemessen traditionell immer dann stattfand, wenn eine größere Anzahl von Nomaden verschiedener Klans an einem Ort zusammentraf. Ringen, Reiten und Bogenschießen – diese drei Nationalsportarten standen im Mittelpunkt des Festes.
Man sagt, dass die Tradition der Naadam-Spiele bis in die Zeit Dschingis Khans zurückreicht, der seine Krieger in Schaukämpfen gegeneinander antreten ließ. Als das Fest in Ulan Bator zu einer festen jährlichen Instanz wurde, legte man seinen Beginn auf den 11. Juli, den mongolischen Nationalfeiertag. Das ist der Tag, an dem wir die Unabhängigkeit von China feiern.
Am ersten Tag des Naadam-Festes schien die Sonne in das Wohnzimmer, in dem Jens und Marie auf ihren Matten lagen. Galsan hatte das Haus schon verlassen, er traf sich mit einem Kollegen von der Gewerkschaftszeitung.
Normalerweise arbeitet niemand während des Naadams, aber die Zeitung muss pünktlich erscheinen.
Marie und Jens zogen allein los, um sich die feierliche Parade zur Eröffnung des Festes anzusehen. Die Temperatur war angenehmer als am Tag ihrer Ankunft. Es war noch nicht zu warm, Marie hatte sich eine dünne blaue Jacke übergezogen. Ohne den genauen Ablauf zu kennen, ließen sie sich in Richtung Stadtzentrum treiben. In der sonst eher ruhigen Stadt waren viele Menschen unterwegs, Sportler und Zuschauer strömten durch die Straßen.
Auf dem quadratischen Süchbaatar-Platz mit der Statue des Revolutionshelden Damdin Süchbaatar auf einem Pferd und dem großen Denkmal Dschingis Kahns direkt vor dem Parlamentsgebäude fand die Eröffnungsparade statt. Marie zwängte sich in der Menge nach vorn, um besser sehen zu können. Vor dem Süchbaatar-Denkmal ritten Soldaten auf geschmückten Pferden in ihrer traditionellen blau-roten Tracht vorbei. Die Soldaten trugen die spitzen Hüte, von denen Galsan gesagt hatte, das seien persönliche und wertvolle Gegenstände. Auch die Sportler, die in der Parade mitliefen, trugen farbenprächtige Mäntel und ebenfalls spitze Hüte. Zwischen den Athleten sah man Mönche in roten Kutten.
Auch viele der Zuschauer hatten ihre festliche Tracht angelegt, sodass es schwerfiel, sie von den Teilnehmern zu unterscheiden. Fotos dieser Kleider hatte Jens bei seinen Reisevorbereitungen in
Weitere Kostenlose Bücher