Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Außerdem hilft er wunderbar bei aufgesprungenen Lippen.
Wieder lachte Galsan freundlich. Jens fasste sich an den Mund und bemerkte, dass seine Lippen in der Tat trocken und rissig waren. Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Schale. Nach dieser Erklärung schmeckte das Getränk schon deutlich besser.
Haasa war eine schöne Frau mit freundlichen Zügen und einem bunten Tuch auf dem Kopf, das ihre dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht hielt. Ihr Blick traf den von Marie, und sie lächelte. Ihr taten die beiden verfrorenen Geschöpfe leid, deshalb trat sie an den Küchenofen und fing an, ein warmes Essen mit Fleisch und Nudeln zuzubereiten. Ihr Mann führte seine Gäste ins Wohnzimmer.
Dort fiel Marie das große Bücherregal ins Auge, ein vertrauter Anblick. Sie entdeckte Bücher, die auch ihre Freunde daheim im Regal hatten.
Galsan goss aus einer bunten Blechkanne mehr von dem schweren, gräulichweißen Tee in die Schalen.
Ich erinnere mich noch gut an deinen Onkel. Er hat begeistert von seinem Neffen erzählt, der in Berlin Biologie studiert. Ich habe vorhin, als du vom Bahnhof angerufen hattest, zu Haasa gesagt: Diese beiden Deutschen verlassen ihre Familien, um zu uns ans Ende der Welt zu kommen. Es muss einen guten Grund dafür geben.
Jens schaute erst zu Marie und dann zu Galsan.
Wir wollen dein Land kennenlernen. Wir haben Einladungen, aber die sind nicht echt. Eine war ursprünglich für einen anderen Biologen aus meinem Land, aber die Volkspolizisten haben es nicht bemerkt.
Sie mussten alle lachen.
Ich würde gerne nach einer kaum bekannten Vogelart im Westen der Mongolei suchen, die müsste dort vorkommen. Da will ich hin.
Galsan nickte.
In der Mongolei ist die Staatsgewalt ziemlich versprengt, das Land ist zu groß und zu dünn besiedelt, um es systematisch kontrollieren zu können.
Marie und Jens hörten zu, sie wollten so viel wie möglich von ihm über das Land und seine Menschen erfahren.
Die Mongolen haben ein ausgeprägtes Wir-Gefühl. Damit meine ich etwas anderes als das kollektive Denken des Sozialismus, das ich bei euch kennengelernt habe und das die Russen seit Jahrzehnten auch bei uns durchsetzen wollen. Nomaden waren schon immer auf andere Menschen angewiesen und sind es noch immer. Man braucht einander von früh bis spät, um die Dinge machen zu können, die lebensnotwendig sind. Es geht dabei nicht nur um menschliche Partner. Auch die Natur wird zu einem Verbündeten, auf den man sich verlassen muss. Das Pferd, das man reitet, ebenso wie die Berge, die den Himmel zerteilen, und der Baum, neben dem du deine Jurte aufbaust.
Galsan machte eine Pause, dann wandte er sich an Jens:
Was ist mit deiner Berufung zu Hause, in Deutschland? Arbeitest du schon als Biologe?
Jens zögerte. Er erzählte von seiner Begeisterung für die Biologie und sprach dann von den Schwierigkeiten an der Universität, seinem Rauswurf und dass die Vorträge, von denen er gelebt hatte, nun auch den politischen Verhältnissen zum Opfer gefallen waren. Galsan erwiderte darauf, dass auch er sich nicht staatskonform verhalten und seinen Lehrauftrag an der mongolischen Staatsuniversität schon vor gut zehn Jahren verloren habe – wegen politischer Unzuverlässigkeit, wie es offiziell hieß. Die Kontrollorgane des unter dem Einfluss der Sowjetunion stehenden Staates hätten ihn verhört, weil er den Sozialismus kritisiert habe.
Er sei bis heute parteilos geblieben. Seiner Frau habe das nicht geschadet, sie habe es sogar bis zur Chefköchin im Haus des Politbüros gebracht. Inzwischen schreibe er für die Gewerkschaftszeitung »Hü Dyl Mür«, was so viel wie »Arbeit« bedeute. Außerdem habe er die Möglichkeit, deutsche Schriften ins Mongolische zu übersetzen, das bereite ihm viel Freude.
Aber ich sehne mich immer wieder nach den Weiten der Steppe und nach der Ruhe, die dort in der Luft liegt. Die Regeln des Gemeinschaftslebens dort draußen sind sehr alt, so wie der Schamanismus und der Glaube an die Götter der Natur.
Marie, die vor allem zuhörte, sagte, wie gern auch sie sich in der Natur aufhalte, und fragte ihn dann nach seiner Zeit als Student in Leipzig und wie er Deutschland erlebt habe. Galsan antwortete:
Leute aus unseren Behörden haben mir damals erzählt, die deutsche Kultur sei ein großes Vorbild für die primitive Lebensweise der Mongolen. Als ich in Deutschland ankam, dachte ich zuerst, sie hätten recht. Ich habe tatsächlich lernen müssen, mit Messer und Gabel zu essen. Zunächst hatte
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