Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
ihre Pässe abgeben, sie staunten allerdings darüber, dass es nicht allzu lange dauerte, bis ein Uniformierter sie ihnen zurückgab und auf Russisch eine gute Reise wünschte. Dann ging die Fahrt wieder lange Zeit durch kaum bewohntes Gebiet. Ab und zu sahen Marie und Jens in der Ferne weiße Punkte. Das mussten die Jurten der Nomaden sein.
DER BAHNHOF von Ulan Bator war nicht besonders groß. Es war kühl und regnete. Jens erspähte am Bahnhofsgebäude ein öffentliches Telefon. Er hatte sich von seinem Onkel aus dem Forsthaus bei Templin die Nummer von Galsan Tschinag geben lassen, einem mongolischen Schriftsteller, der in Leipzig studiert hatte und fließend Deutsch sprach.
Sein Onkel hatte ihn zufällig drei Jahre zuvor kennengelernt, als er sich mit einer Delegation des Kulturbundes zu einem offiziellen Besuch in Ulan Bator aufgehalten hatte. Er fand damals ein Gebäude am Rand der Stadt besonders schön und fotografierte es. Kaum hatte er sich umgedreht, war er von Uniformierten umringt und mitten auf der Straße gestellt worden. Er hatte nicht gewusst, dass das Gebäude ausgerechnet die sowjetische Botschaft war. Sie wollten ihn verhaften. In diesem Moment kam ein Passant dazu, es war Galsan. Er bot sich als Dolmetscher an, fuhr mit auf das Polizeirevier und konnte die Situation entschärfen.
Jens hatte Glück, vom Telefon am Bahnhof aus erreichte er Galsan. Der versprach, ohne zu zögern, die fremden Besucher aus Deutschland am Bahnhof abzuholen. Er werde mit dem Bus kommen, das dauere nicht lange, die Straßen seien ja leer. Marie und Jens suchten sich mit ihren Rucksäcken einen Platz zum Warten. Sie gingen in das Bahnhofsrestaurant und bestellten Tee. Was sie bekamen, sah eher aus wie eine heiße Brühe. Auf der milchig-braunen Flüssigkeit schwammen Fettaugen. Marie probierte vorsichtig und verzog das Gesicht. Der Tee war salzig, und sie fand ihn furchtbar, Jens ebenfalls. Ihre Schalen wurden nicht leer.
Kurz darauf kam ein gut gelaunter Mensch auf sie zu. Galsans Augen strahlten im sonnengegerbten Gesicht. Marie mochte ihn vom ersten Moment an. Galsan sah sich die beiden Deutschen an und fand sie klein und schmächtig, ihre Rucksäcke aber viel zu groß. Sie wirkten auf ihn durchgefroren und ausgehungert.
Sie nahmen den nächsten Bus zurück zu Galsans Wohnung. Von der Haltestelle bis zu seiner Wohnung mussten sie durch einen heftigen Schauer laufen, sodass sie ganz durchnässt wurden.
Galsan lebte mit seiner Familie in einem Wohnblock, der fünf Stockwerke hoch und modern war im Vergleich zu den provisorischen Wohnunterkünften, die Marie aufgefallen waren, als der Zug in die Stadt hineingefahren war. Am Stadtrand wohnten die Mongolen, die ihr Nomadenleben aufgegeben hatten, in kleinen Steinhäusern mit blauen, roten und grünen Wellblechdächern oder in eng zusammenstehenden Jurten, die zum Teil schon mit Steinen und Holzanbauten befestigt worden waren. Um die rechteckigen Grundstücke herum stand jeweils ein grob behauener Palisadenzaun. Dass die Nomaden derart zusammengepfercht lebten, war das Ergebnis einer politisch gewollten Landflucht.
Als sie endlich bei Galsan in der Wohnung standen, hatte der Regen aufgehört, und im Schotter vor dem Haus spielten Kinder mit einem Hund in den Pfützen.
Seid meine Gäste, fühlt euch, als wäret ihr selbst hier zu Hause, sagte der Mongole, fast ohne Akzent, mit seiner ruhigen, warm klingenden Stimme. Drei Zimmer hatte er für seine Familie, Frau und vier Kinder, große Fenster gaben den Blick auf den Hof frei.
Galsan und seine Frau Haasa baten die beiden, die nasse Kleidung gegen trockene auszutauschen. Jens hatte zwar was zum Wechseln im Rucksack, doch der Hausherr bot Jens eine braune Hose an, die er einmal in Leipzig gekauft hatte. Obwohl auch er schlank wirkte, war Galsans Hose für Jens viel zu weit. Galsan schenkte ihm noch einen Schlips dazu, der als Gürtel seinen Dienst erfüllte.
Die Gastfreundschaft ist uns Mongolen heilig.
Seine Frau setzte in der Küche einen Tee auf. Jens blickte ihr über die Schulter, als sie dem Tee-Aufguss noch Milch, Salz und etwas Butter zufügte.
Galsan bemerkte seinen Blick und erklärte, was sie da zubereitete.
Der Milchtee, wir nennen ihn Süütei tsai, gibt Lebenskraft. Er stillt den Durst und wärmt und sättigt. Das ist sehr nützlich, wenn man lange in der Steppe unterwegs ist. Er ist Nahrung, Flüssigkeit und soziales Ritual, alles in einem, er ist ein wichtiger Bestandteil unseres nomadischen Lebens.
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