Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
auszuruhen. Er hatte genug Essen dabei, eingeschweißte Suppen, Notrationen. Aber fast eine Woche lang konnte er sich kaum aus seinem Schlafsack herausbewegen. Immer wieder habe er sich da gefragt, was ihn antreibe: Warum tu ich mir das an? Warum will ich allein auf solche Berge? Jeder normale Mensch bleibt zu Hause, warum brauche ich das, um glücklich zu sein?
Ein kleiner Pfeifhase sei der einzige Besucher gewesen. Mit jedem Tag sei er wie ein Murmeltier immer zahmer geworden und habe nach Jens gesehen. Ich habe ihn fotografiert. Als wir vertrauter wurden, habe ich Porträtaufnahmen gemacht. Ich hab’ ihm die Rinde gegeben von dem Brot, das ich auf dem Benzinkocher selbst gebacken hab’.
Als es mir wieder besser ging und ich mich einer zufällig vorbeikommenden Gruppe russischer Bergsteiger anschließen konnte, an dem Morgen war er nicht mehr gekommen.
KURZ VOR der Landung in Irkutsk sah Marie durch das kleine Fenster der Tupolew direkt unter sich ein abgestürztes, zerbrochenes Flugzeug am Boden. Es schien dort schon eine Weile zu liegen.
Ни за что взглянуть – Auf keinen Fall hinsehen!, riet ihr ein Sitznachbar.
Auch in Irkutsk blieben sie nur ein paar Stunden. Der Baikalsee lag zwar nur sechzig Kilometer entfernt, doch sie wollten so rasch wie möglich in die Mongolei. Jens besorgte die Fahrkarten, und sie nahmen den nächsten Zug der Transsibirischen Eisenbahn.
Für die rund tausend Kilometer nach Ulan Bator, in die Hauptstadt der Mongolei, benötigten sie noch über einen Tag. Ihr Waggon hatte zwei Zugbegleiter, einen Prowodnik und eine Prowodniza. Immer wenn der Zug hielt, setzte einer der beiden die Uniformmütze auf und öffnete die Waggontür. Während der Fahrt trugen sie unentwegt heißen Tee in die Abteile und füllten die in Metall gefassten Teegläser nach, die vor dem Zugfenster standen, aus dem Marie und Jens eine Zeit lang das südliche Ende des Baikalsees sehen konnten. Das monotone Rütteln des Zuges und das helle Klingeln der aneinanderstoßenden Teegläser mit den schweren Metalllöffeln drin begleitete sie bis in die Mongolei. Wenn Marie und Jens aus dem Fenster schauten, sahen sie eine wilde, weitgehend unbewohnte Landschaft vorbeiziehen. Manchmal fuhr der Zug direkt am großen Flusslauf der Selenga entlang, dem er lange folgte, manchmal dicht an Felswänden. Unterwegs hielt er in Ulan-Ude.
Ein paar Namen und Adressen, die ihnen in dieser Gegend nützlich sein könnten, hatte Jens in seinem Notizbuch stehen. Etwa die von Mischa, einem ehemaligen Kampfpiloten der Roten Armee. Im vergangenen Sommer, als Jens unterwegs zum Baikalsee gewesen war, war der russische Offizier irgendwann nachts in das Schlafwagenabteil der Transsibirischen Eisenbahn zugestiegen.
Wir fuhren durch die endlose Landschaft, schauten aus dem Zugfenster und hatten Zeit. Dann am Morgen habe ich für uns beide Tee geholt und das Frühstück ausgepackt. Der Mann rührte eine Art Marmelade in sein Teeglas. Grund genug für ein Gespräch. Wie heißt du, woher kommst du, wohin fährst du. Mischa kam aus Tschita, der Hauptstadt einer kleinen autonomen Region am Baikalsee.
Ich habe ihm gesagt, da gebe es doch den beeindruckenden Nationalpark mit dem sibirischen Tiger. Da hat er gestaunt und gesagt: Nicht schlecht. Woher kennt jemand aus Berlin meine Heimatstadt? Einen Tag später, wir waren immer noch im selben Abteil zusammen, hab’ ich allen Mut zusammengenommen und ihm erzählt, wohin ich gerne einmal will, wenn ich in die Mongolei kommen sollte, um die bisher unbekannten Brutorte einer seltenen Vogelart zu suchen.
Wie manch anderer Uniformierter auf dieser Reise hatte sich Mischa nicht als Feind, sondern als Freund erwiesen.
Weißt du was, ich kann dir helfen, ich mache regelmäßig Versorgungsflüge für unsere Geologen.
Mischa hatte Jens Ortsnamen genannt, dorthin könne er ihn mit seinem Flugzeug bringen.
Dienstags und freitags, je nachdem, wie das Wetter ist. Geh einfach auf den Flughafen von Ulan Bator, geh an den Sperren vorbei, lauf über das Rollfeld und frag nach Mischa. Warte ruhig auf mich, wenn ich nicht da sein sollte.
Kapitel 10 Ankunft in Ulan Bator
An der Grenze zur Mongolei blieb der Zug lange stehen. Mindestens zwei Stunden passierte nichts. Es wurde schon langsam hell, als neben den Gleisen russische Soldaten erschienen, die jeden Waggon von unten genau inspizierten. Sogar eine Luke im Gang hoben sie hoch. Die Kontrolle aller Reisenden zog sich hin.
Marie und Jens mussten
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