Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Büchern gesehen. Auf einigen der Gewänder, den sogenannten Deels, erkannte Marie die runden Muster wieder, die ihr am Vortag im Nationalmuseum aufgefallen waren.
Ein anderer Teil der Zuschauer trug aus der Mode gekommene europäische Anzüge und Hüte, ihre Frauen ebenso altmodische Röcke und Strickjacken. Sie sahen Greise mit krummen Beinen, eingefallenen Gesichtern, in deren Mündern Zähne fehlten. Auch sie trugen stolz ihre glänzenden Deels, darunter lugten kniehohe Stiefel hervor: Großväter, die mit ihren Enkeln zum Naadam zogen.
Jens und Marie waren überwältigt von so viel Farbe, den unbekannten Klängen.
Vielleicht schaffen wir es ja, einen Platz im Stadion zu bekommen, rief Jens, lass uns losgehen .
NACHMITTAGS standen sie im dichten Gedränge vor dem Naadam-Stadion, einem schmucklosen sandfarbenen Sowjet-Bau, den man durch drei schmale Türen unter weiß gestrichenen Bögen betreten konnte. Ohne Probleme gelangten sie hinein.
Marie lachte und rief Jens zu:
Wieso haben wir bloß gedacht, es gibt Eintrittskarten?
Das Fest hatte begonnen, und obwohl draußen immer noch Tausende Menschen zu stehen schienen, sah es aus, als sei das Stadion bereits komplett überfüllt. Auf der Rasenfläche zwischen den Tribünen kämpften mehrere Ringerpaare gleichzeitig. Die Wettkämpfer trugen Stiefel, eng anliegende blaue, kurze Hosen und dazu rote Leibchen über ihren massigen nackten Oberkörpern. Nach einer Weile begriff Marie, dass ein Kampf beendet war, wenn einer der Ringer den Boden mit einem anderen Körperteil als Hand oder Fuß berührte und damit verloren hatte. Der Gewinner vollführte den sogenannten Adlertanz und lief mit ausgestreckten Armen, die er wie ein Vogel langsam schwingend bewegte, über den Kampfplatz.
Neben Jens stand ein vielleicht vierzehnjähriger Junge, der ihn neugierig ansah und breit lächelte. Eine Frau verkaufte ihnen Teigtaschen mit Hackfleischfüllung.
Am frühen Abend sahen sie noch den Frauen beim Bogenschießen zu. Aus etwa fünfzig Meter Entfernung zielten die Wettkämpferinnen auf eine vier Meter lange Wand aus übereinandergestapelten Körben. Ziel war es offenbar, mit einer festgelegten Anzahl an Pfeilen möglichst viele dieser Körbe zu treffen. Die Leute sangen und feuerten die Sportlerinnen an. Jens konnte sich nicht sattsehen an den Roben der Zuschauer und an der Freude, die über allem zu liegen schien.
Es dämmerte schon, als sie sich auf den Weg zurück zu Galsans Wohnung machten.
ALS AM NÄCHSTEN MORGEN die Sonne aufging, hupte es draußen laut im Hof. Es war Galsans Nachbar Batu, ein alter Herr mit faltigem Gesicht, der mit seinem klapprigen russischen Jeep vor dem Haus wartete. Jens und Marie liefen die Treppen hinunter. Auf der Ladefläche des Jeeps saßen bereits zwei Männer, drei Frauen und fünf Kinder. Jens stieg vorne auf den Beifahrersitz, Marie auf die Ladefläche, und langsam setzte sich der Transport in Bewegung. Marie nickte den Mitfahrern zu und sie grüßten zurück. Ein kleines Mädchen schaute sie mit großen Augen an und versteckte ihren Kopf im Mantel der Mutter.
Bald ließen sie die Stadt hinter sich. Vereinzelt fuhren Autos den gleichen Weg, die meisten Besucher waren jedoch auf Pferden oder zu Fuß unterwegs. Eine lange Karawane zog in die Steppe nordwestlich von Ulan Bator. Dort fand das Pferderennen statt, bei dem die Hirtenkinder sich miteinander messen konnten. Am Horizont der Steppe sahen Marie und Jens eine sanfte Hügellandschaft.
Batu parkte den Jeep abseits des Geländes, die Gruppe ging zu Fuß zu den anderen Zuschauern.
Viele werden auch erst später kommen. Es geht gar nicht darum, das ganze Rennen zu sehen, sondern gemeinsam Zeit zu verbringen und dem Gewinner Respekt zu zollen, erklärte Batu.
Ein gutes Abschneiden bei dem Rennen war wichtig für die Pferdezüchter. Sie erzielten bessere Preise für ihre siegreichen Pferde und vermehrten damit nicht nur ihr Einkommen, sondern gewannen auch an Ansehen.
Marie war müde von der Fahrt und froh darüber, dass Jens sich unterhielt, während sie mit dem kleinen Mädchen spielen konnte, das am Anfang der Fahrt zwar scheu gewesen, inzwischen aber recht neugierig geworden war. Sie nahmen einfach Steine vom Boden auf und versuchten einen Kreis zu treffen, den sie in den Lehm gezeichnet hatten. Irgendwann griff das Mädchen zögerlich nach Maries Hand und wich von diesem Moment an nicht wieder von ihrer Seite.
Vom Rennen selbst bekamen sie nur dessen Ende so richtig mit. Die
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