Die Verdammten: Endzeit-Thriller (German Edition)
den Dunst des sich verziehenden Staubs sah er einen Wald aus riesigen Bäumen. Mächtige, uralt wirkende Baumfüße thronten zwischen unzähligen Haufen aus zerstörtem Beton und Schutt. Dicke Stämme ragten auf, durchbohrten die Betondecke und setzten ihre Reise nach oben fort. Im Licht der Benzinflamme erkannte Paul etwa ein halbes Dutzend Bäume – er vermutete, dass es in Wahrheit mindestens doppelt so viele waren –, die einer grandiosen Orgie des neuen Lebens und der Zerstörung entsprungen waren. Die Stämme hatten die Decke des Parkdecks komplett zerstört. Er fühlte sich an ein Blatt Papier erinnert, durch das jemand mehrere Bleistifte gestoßen hatte.
Das untere Parkdeck sah aus, als sei es von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden. Betonplatten in verschiedenen Formen und Größen lagen über den Boden verteilt, und kaputte Rohre, entsetzlich verdreht und kurz vor dem Abbrechen, hingen von den Überresten der Decke. Einige der Betonpfeiler waren komplett zerstört, andere umgestürzt oder standen schief, gerade noch eben in Position.
Als er ein Weinen hörte, ließ Paul seinen Blick durch den schlagartig gewachsenen, seltsamen Wald schweifen, in der Hoffnung, auf Lebenszeichen des Pärchens oder des Jungen zu stoßen.
Aufgrund der spärlichen Beleuchtung und der dünnen Staubschicht, die noch immer in der Luft lag, blieb seine Sicht jedoch sehr begrenzt. Er hielt sich mit einer Hand die schmerzende linke Seite und bewegte sich vorsichtig Schritt für Schritt auf das Weinen zu. »Hallo?«, rief er mit krächzender Stimme, den Mund voller Staub. »Hallo, geht es Ihnen gut?«
Statt der üblichen Zigarettenkippen und festgetrockneten Kaugummis war die vierte Parkebene nun mit Betonbrocken und Staub sowie Blättern und Bruchstücken von Rinde übersät. Paul kickte die Hindernisse zur Seite, um sich einen Weg zu bahnen, trat um die mächtigen Wurzeln herum und machte einen Bogen um die Stellen, an denen die Bäume bei ihrem Durchbruch Löcher in den Boden gerissen und den Beton zum Platzen gebracht hatten. Er holte sein Handy aus der Tasche und konnte im dämmrigen Licht der unteren Parkebene die Worte ›Kein Netz‹ auf dem Display erkennen.
Nutzlose Erfindung, dachte Paul und steckte das Telefon zurück in die Hosentasche.
Schließlich fand er den alten Mann. Dieser kniete auf dem Boden und beugte sich über seine Frau, die vor ihm lag. Selbst im spärlichen Licht konnte Paul das Blut erkennen.
Der alte Mann schluchzte heftig, und sein Weinen wurde gelegentlich durch ein »Mildred, oh, Mildred« unterbrochen.
Paul hielt sich die gebrochenen Rippen und fragte so sanft, wie er konnte: »Was ist passiert?«
Harold schaukelte auf den Knien vor und zurück und wiegte seine Frau in den Armen.
Paul konnte die obere Hälfte ihres Körpers erkennen.
Er spürte, wie etwas Heißes in seiner Kehle aufstieg. Er wich ein paar Schritte zurück. Brust und Gesicht der Frau waren völlig zerquetscht worden. Ihre aufgerissene Haut wurde von Blut überströmt. Ihre Nase schien gebrochen und hatte sich auf eine Seite geschoben, die Lippen kaum mehr als zwei nass-glänzende Streifen aus rotem Fleisch. Ihre Stirn wirkte eingedrückt und eines ihrer Ohren schien nur noch an einem winzigen Rest Haut zu hängen.
Paul wandte sich ab, und im Schein der Flamme traf sein Blick auf eine große, blutverschmierte Betonplatte. Er fragte sich, ob die Platte auf die alte Dame gefallen und dann von ihr heruntergerutscht war oder ob der alte Mann das couchtischgroße Hindernis mit eigener Kraft weggestemmt hatte.
Dafür braucht man unheimlich viel Kraft, dachte Paul. Dann kam ihm ein ganz anderer Gedanke: Wie hatte der alte Mann seine Frau in der Dunkelheit überhaupt gefunden? Und, viel wichtiger, wo war der Junge? Paul drehte sich wieder um und fragte: »Verzeihen Sie, Harold, aber wissen Sie, wo Ihr Enkel ist?«
»Ich … ich weiß nicht, wo Sam ist«, erwiderte der alte Mann. »Ich hab ihn verloren, als … als die Bäume aus dem Boden gewachsen sind. Als sie aufgehört haben, hab ich sofort nach ihm und Mildred gesucht … Ich hab Mildred gefunden, sie lag unter einer …« Er senkte den Kopf und fing erneut zu weinen an.
»Möchten Sie, dass ich nach ihm suche?«
Harold nickte.
»Okay. Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin sicher, dass es ihm gut geht. Hier, nehmen Sie mein Telefon. Wenn Sie Licht brauchen, drücken Sie einfach …«
»Ich hab selbst eins«, unterbrach Harold ihn.
»Oh, na, umso besser.«
Tja,
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