Die Verfluchte
halbes Jahr lang ein Paar gewesen – bis Rose vor drei Wochen mit ihm Schluss gemacht hatte. Aus irgendeinem Grund war er nicht der Richtige für sie gewesen. Bisher war kein Mann, mit dem sie etwas angefangen hatte, der Richtige gewesen, und diese Erkenntnis hatte Rose in eine beginnende Depression gestürzt. Als sie angefangen hatte, davon zu faseln, dass es irgendwo dort draußen womöglich einen Mann gab, den sie liebte und an den sie sich nur nicht erinnern konnte, hatte Enora vorgeschlagen, Urlaub in der Bretagne zu machen. Vor drei Tagen waren sie gemeinsam in Roses klapperigem Renault von Paris aus hierher gefahren.
Jetzt versuchte Rose sich Serges Gesicht vorzustellen, aber es wurde überlagert. Von leuchtend blauen Augen und schwarzen Locken.
In ihrem Körper prickelte es schon wieder.
Enora stellte ihre Tasse ab. „Du liebst ihn noch immer“, sagte sie.
Rose brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, dass ihre Freundin von Serge sprach. „Natürlich nicht!“, behauptete sie. Willentlich verbannte sie die Züge des schwarzhaarigen Fremden aus ihrem Gedächtnis. Wie alt war sie eigentlich? Von einem sexy Fremden zu träumen war ja eine Sache, aber sich dann auch noch vor Sehnsucht nach ihm verzehren? Sie benahm sich ja wie ein Teenager!
Enora lächelte, und wie so oft hatte Rose das Gefühl, dass ihre Freundin sie durchschaute. „Die gute, alte Rose! Wieder auf der Suche nach Mr. Right?“
Rose schwieg. Sie war kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag, zum Kuckuck! Sie hatte einige One-Night-Stands gehabt und auch den ein oder anderen festen Freund. Auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte: Vor dem Segelunfall war das mit Sicherheit nicht anders gewesen. Aber bisher hatte kein Mann das Loch in ihrem Herzen füllen können. Bei Serge hatte sie erst gedacht, dass er es schaffen würde, aber genau wie bei allen anderen hatte sie nach wenigen Wochen festgestellt, dass er nicht derjenige war, nach dem sie suchte.
Mr. Right!
Wieder erschienen die blauen Augen des Fremden vor ihr.
„Und wenn!“, murmelte sie. Sie hatte keine Lust auf dieses Thema. „Was haben wir heute vor?“, fragte sie darum ausweichend.
Enora schüttelte sanft den Kopf. Auf ihren Lippen erschien ein ziemlich gemeines Grinsen. „Nee, meine Liebe! Erst Andeutungen von einem heißen Traum machen und dann kneifen gilt nicht! Raus mit der Sprache! Ich will alle schmutzigen Details wissen!“
Rose nahm ihre Kaffeetasse und versenkte die Nase darin. Sie wusste, dass Enora nicht locker lassen würde, bis sie ihr wenigstens ein paar Einzelheiten verraten hatte. „Er kommt zu mir“, murmelte sie dumpf und deutete zu der Wand, hinter der ihr Zimmer lag. „Hierher ins Ferienhaus. Er kommt einfach rein, und dann ... nimmt er mich.“ Sie räusperte sich und trank einen langen Schluck. Allein es auszusprechen fühlte sich heiß an.
„Nett!“, kommentierte Enora. Ihr Blick war jetzt ganz aufmerksam auf Rose gerichtet. „Ist es wenigstens gut?“
Rose dachte an das Verlangen, das sie in ihrem Traum empfunden hatte. An das Bedürfnis, sich diesem Unbekannten hinzugeben, den brennenden Wunsch, ihn zu spüren, auf sich, in sich. Mechanisch nickte sie, und ihre Wangen wurden schon wieder heiß.
Enora lachte laut. „Sag jetzt aber nicht, dass du deine Koffer packen und zurück nach Paris willst!“, rief sie aus. Sie dachte eindeutig immer noch, dass Rose von Serge träumte.
Rose stellte die Kaffeetasse weg und schüttelte den Kopf. „Lieber nicht!“, sagte sie. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sich ihr hier an diesem Ort eine reelle Chance bot, den rabenhaarigen Fremden aus ihrem Traum leibhaftig zu treffen.
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Was für ein alberner Gedanke!
Nach dem Frühstück verkündete Enora, dass sie dringend ein paar Besorgungen machen müsse. Ohne weitere Erklärungen verließ sie das Ferienhaus, und Rose schaute ihr verwundert hinterher. Eigentlich hatten sie vorgehabt, heute ans Meer zu gehen oder nach Carnac zu fahren. Rose machte sich jedoch nicht allzu viele Gedanken über die unerwartete Planänderung ihrer Freundin, denn Enora konnte sehr sprunghaft sein. Stattdessen beschloss sie, ein bisschen zu lesen. Das Ferienhaus hatte eine recht ansehnliche Bibliothek, die im Wohnzimmer in einem alten Bauernschrank stand. Die meisten Bücher schienen aus dem 19. Jahrhundert zu stammen und handelten von der Geschichte der Kelten und von den berühmten Menhiren, die hier in der
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