Die Verfluchte
verloren.
Sie umklammerte ihre Knie. Bekam sie jetzt etwa eine waschechte Depression? Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, aber es kamen immer neue nach.
„Hör auf zu flennen!“, murmelte sie durch zusammengebissene Zähne. Und als das nichts nützte, stand sie auf. Sie zwängte sich durch den Durchlass zwischen den Dornenranken und verließ diesen sonderbaren Ort.
Sie schlenderte den schmalen Pfad entlang zurück zum Ferienhaus, und als sie dessen Gartenzaun schon sehen konnte, fiel ihr Blick auf das Häuschen, das zwischen den wuchernden Wildrosen kauerte, als habe es sich nachträglich dort hingedrängt. Sonderbar, dachte Rose. Das Häuschen sah bei weitem nicht so verfallen aus, wie sie nach den Erzählungen ihrer Vermieterin geglaubt hatte. Ein schlichtes Reetdach, nur ein einziges Stockwerk – das Häuschen sah beinahe so aus, als stamme es aus keltischer Zeit. Sogar einen Stall gab es, aus dem zwei Pferde und eine Milchkuh herausschauten.
Wie das Ferienhaus auch hatte es einen aus Weidenruten geflochtenen Gartenzaun und dahinter wucherte blau leuchtende Akelei bis fast in die niedrige Haustür hinein. Der Duft der kleinen Blüten vermischte sich mit dem der Wildrosen. Eine schlanke, rothaarige Katze saß auf einer Bank neben dem Rosenstrauch. Als sie Rose bemerkte, starrte sie sie neugierig an. Unter dem Blick ihrer leuchtend grünen Augen kam sich Rose nackt vor.
Unschlüssig blieb sie stehen.
Alle Fenster standen offen, weiße Vorhänge wehten im Wind, und von drinnen war leiser Gesang zu hören. Eine Frauenstimme sang eine Melodie, die Rose vertraut vorkam.
„From the first day I saw her I knew she was the one As she stared in my eyes and smiled For her lips were the colour of the roses That grew down the River, all bloody and wild ...“
Rose legte eine Hand auf die Gartenpforte. Die Sonne hatte das alte Holz erwärmt. Es fühlte sich unter ihren Fingern so glatt an wie ein Stück Seife. Im Inneren der Hütte klapperte Geschirr, dann sang die Frauenstimme:
„When he knocked on my door and entered the room My trembling subsided in his sure embrace ...“
Den Rest der Strophe summte sie.
Rose kannte das Lied. Nick Cave hatte es zusammen mit Kylie Minogue gesungen, aber Rose wusste, dass es sich dabei um ein sehr altes Volkslied handelte.
„Ist da wer?“ Die Frau in der Hütte musste sie gehört haben, denn nun kam sie an das offene Fenster und warf einen Blick heraus. „Oh!“, sagte sie. „Besuch! Wie schön! Ich habe sehr lange auf dich warten müssen!“
Rose waren diese sonderbaren Worte nicht ganz geheuer. Warum nur hatte die Vermieterin ihnen nicht gesagt, dass es eine offenbar ziemlich verschrobene Nachbarin gab? Rose wollte schon sagen, dass sie weitermusste, aber etwas hielt sie davon ab. Die Frau in dem Häuschen wirkte sonderbar alterslos. Sie hätte fünfzig sein können oder siebzig – oder zweihundert, schoss es Rose durch den Kopf. Ihre Haut war durchzogen von ungezählten, feinen Falten und wirkte trotzdem makellos, wie aus Porzellan. Lange, schneeweiße Haare waren zu einem Zopf geflochten, und die hellgrauen Augen unter dem Pony schauten Rose durchdringend und freundlich an.
Spontan hatte Rose das Gefühl, diese Augen schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie räusperte sich. „Nein“, sagte sie, als sich die Tür der Hütte öffnete und die Frau herauskam. „Ich bin hier nur zufällig ...“
Sie verstummte. Die Frau trat durch die Gartenpforte und blieb direkt vor ihr stehen. Sie war schlank, gekleidet in ein Gewand aus Leinen, das ebenso aus der Zeit gefallen zu sein schien wie die Hütte selbst. Rose sah bunte Borten an Ausschnitt und Ärmeln, wie sie sie selbst schon für ein Museum für keltisches Alltagsleben rekonstruiert hatte. Offenbar war die Frau eine Traditionalistin, dachte sie.
Die Frau war größer als Rose. Ihre schmalen, etwas zu blassen Lippen teilten sich, schlossen sich wieder. Die Fältchen um ihre Augen wurden tiefer, als sie lächelte.
„Es gibt keine Zufälle, mein liebes Kind!“, sagte sie und fügte hinzu: „Ich wusste, dass du mich an Beltane finden würdest.“
Rose schluckte. Und schwieg.
Die Frau wies auf ihre Eingangstür. „Komm doch herein! Ich wollte mir gerade einen Tee machen. Vielleicht hast du ja Lust, mir ein bisschen Gesellschaft zu leisten.“ Sie duzte Rose mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass die sich ärgerte. Für einen Moment kam sie sich vor, als sei sie wieder neun Jahre alt und die
Weitere Kostenlose Bücher