Die Verfluchte
wieder.
Rose lauschte in sich hinein. Ihr Herz klopfte noch immer heftig, und ihr war so heiß, als hätte sie gerade eben tatsächlich Sex mit einem Fremden gehabt. Sie zog ihr kurzes Nachthemd tiefer und musste lächeln, weil sie diese dumme Angewohnheit, ohne Höschen ins Bett zu gehen, einfach nicht ablegen konnte.
Serge allerdings hatte es gefallen.
Rose verbannte diesen kurzen Gedanken an den Ex aus ihrem Kopf. Etwas in ihrem Innersten erzitterte. Kurz – sehr kurz – hatte sie das Gefühl, diesen Fremden aus dem Traum seit einer Ewigkeit zu kennen.
Wenn sie die Augen schloss, schien ihr sein Gesicht so unendlich vertraut zu sein – die blassen Züge mit der markanten Nase, die lockigen, schwarzen Haare, die sommerblauen Augen, in deren Blick so viel Schmerz lag.
Sie atmete ein paarmal tief durch, dann kramte sie in ihrem Gedächtnis herum, aber vergeblich. Sie hatte diesen Fremden noch nie zuvor gesehen. Hoffentlich, dachte sie, war er nichts weiter als ein Produkt ihrer Fantasie. Denn wenn das nicht der Fall sein sollte, dann gab es nur eine andere Erklärung, nämlich die, dass der Fremde Teil ihres früheren Lebens gewesen war. Des Lebens, an das sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Vor zweieinhalb Jahren war es gewesen, als sie mit ihrer Familie – ihren Eltern und dem zwei Jahre jüngeren Bruder – einen Segelausflug vor den schottischen Inseln gemacht hatte. Das Boot war in einen Sturm geraten und gesunken. Nur Rose hatte sich ans Ufer der Isle of Man retten können. Seitdem konnte sie sich an nichts erinnern, das vor dem Segeltörn passiert war: Nicht einmal ihren eigenen Namen hatte sie gewusst. Zum Glück hatte ihre beste Freundin Enora, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Urlaub in Schottland gemacht hatte, Rose identifiziert und sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen. Enora war es auch gewesen, die Rose sämtliche Einzelheiten aus ihrem bisherigen Leben erzählt hatte: angefangen von ihrem eigenen Namen, Rose Martin, über die Tatsache, dass sie Historikerin war und sich auf antike Webtechniken und Textilien spezialisiert hatte. Dass sie im Moment leider keinen Job hatte. Dass sie eine kleine Wohnung in Paris besaß, die ziemlich spärlich möbliert war, weil sie sie erst wenige Tage vor dem verhängnisvollen Urlaub gekauft hatte.
All diese Dinge geisterten Rose jetzt durch den Kopf, aber sie schob diese Gedanken von sich und blies sich gegen die vom Traum noch erhitzte Stirn.
„Du hast es echt nötig“, murmelte sie erneut. Sie konnte lange nicht wieder einschlafen.
„Glaubst du, dass dieser Ort irgendwelche magischen Kräfte hat?“, fragte Rose Enora beim Frühstück.
Ihre Freundin verschluckte sich an ihrem Kaffee. Hustend stellte sie die Tasse zurück auf den Tisch. „Wie bitte?“, japste sie. Ihr herzförmiges Gesicht mit den großen, braunen Augen war puterrot angelaufen.
Rose klopfte ihr auf den Rücken. Als Enora sich wieder im Griff hatte, fragte sie: „Wovon sprichst du, bitte schön?“ Sie hatte die schmal gezupften Brauen gerunzelt. Ihr langes, ganz glattes, blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft. Im Gegensatz zu sonst zog Enora es im Urlaub vor, sich weder richtig zu frisieren noch groß zu schminken, und jetzt wirkte sie deswegen fast ein bisschen jungenhaft. In Paris verbrachte sie einen Großteil ihrer Freizeit mit ausgiebigem Kampfsport- und Boxtraining, was man ihrem muskulösen, wenn auch kaum einen Meter fünfzig großen Körper ansah.
„Ach, nur so.“ Rose rührte in ihrem Kaffee und überlegte, was sie jetzt sagen sollte. Gewöhnlich hatte sie keine Probleme damit, mit Enora über Männer zu reden, im Gegenteil. Wie oft hatten sie gemeinsam von sexy Kerlen geschwärmt, die ihnen über den Weg gelaufen waren? Aber irgendwie verspürte Rose einen ziemlichen Widerwillen, Enora von dem Fremden aus ihrem Traum zu erzählen. Darum murmelte sie ausweichend: „Seit wir hier sind, träume ich komisch. Liegt vielleicht daran, dass wir heute Beltane haben.“
„Komisch“, echote Enora.
„Na ja ...“ Rose spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
Enora durchschaute sie. „Sag nicht, du hast feuchte Träume!“ Sie legte beide Hände um ihre Tasse. „Eigentlich hatten wir geplant, dass du hier in der Bretagne über Serge hinwegkommen sollst. Erotische Träume vom Ex waren nicht abgemacht, meine Liebe!“
Ihr Ex.
Rose zuckte zusammen, als sie den Namen hörte. Serge und sie waren ungefähr ein
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