Die Verfluchten
Selbst, wenn diese Ruine so alt war, wie er glaubte, bedeutete
das nicht, dass Abu Duns Erklärung nicht stimmte. Wenn es jemals
eine Oase gegeben hatte, musste es wirklich sehr lange her sein, aber
es gab das Wasser noch immer. Man konnte es nicht sehen, doch
Andrej spürte es. Auch die Pferde, die sie aneinander gebunden am
Fuße der Düne zurückgelassen hatten, schienen die Nähe von Wasser
zu wittern, denn sie hatten ein paarmal versucht, sich loszureißen.
Vielleicht befand sich der Brunnen im Inneren des Gebäudes, überlegte er, was auch eine Erklärung dafür gewesen wäre, dass Meruhe
die aus der Entfernung betrachtet ameisengleich erscheinenden Männer und Frauen der Reihe nach in kleinen Gruppen durch die niedrige
Tür führte, unter der sie nach wenigen Augenblicken wieder auftauchten, um anderen Platz zu machen. Das Innere des Hauses konnte kaum groß genug sein, um vier oder fünf Menschen gleichzeitig
aufzunehmen.
»Wenn es dort drinnen einen Brunnen gibt«, sagte er zögernd, und
Abu Dun führte den Satz an seiner Stelle zu Ende. »Dann wissen Ali
Jhin und seine Männer auch davon.« Er klang besorgt, auch ein wenig nachdenklich. »Und dann muss Meruhe auch klar gewesen sein, dass sie es wissen. Warum ist sie dann hierher gekommen?«
»Vielleicht hat sie gehofft, dass Ali Jhin diesen Ort nicht kennt«,
sagte Andrej, erntete aber ein heftiges Kopfschütteln.
»Nein!«, sagte Abu Dun bestimmt. »Wasser ist das Kostbarste, was
es in diesem Land gibt, Andrej. Das Einzige von Wert überhaupt.
Jeder, der hier lebt, kennt die Wasserstellen, egal ob alt oder nicht,
ob klein oder groß. Auch ein längst versiegter Brunnen ist immer
noch eine bessere Hoffnung als gar keiner. Ihr muss klar gewesen
sein, dass die Verfolger sie hier finden werden.«
Letztlich hatte sie das sogar gesagt, erinnerte sich Andrej. Dennoch
sträubte sich alles in ihm dagegen zu glauben, dass Meruhe einfach
aufgegeben haben sollte. Nach allem, was sie erreicht hatte? Das…
passte einfach nicht zu ihr.
Er setzte dazu an, etwas zu sagen, doch in diesem Moment hob Abu
Dun die Hand und machte eine warnende Bewegung, Andrej erstarrte zur Reglosigkeit und lauschte.
Der Wind hatte gedreht, war ein wenig aufgefrischt - was zu dieser
Zeit der Nacht bedeutete, dass er eisig war - und trug nun Geräusche
aus der entgegengesetzten Richtung heran. Auch von dort näherten
sich Reiter, und obwohl sie noch zu weit entfernt waren, um ihre
Zahl realistisch einschätzen zu können, war doch klar, dass es viele
waren. Andrej hatte insgeheim darauf gesetzt, dass Ali Jhins Männer
nicht ihre gesamte Streitmacht hinter ihrem entführten Befehlshaber
hergeschickt hatten, sondern nur einen kleinen Trupp, vielleicht
zwanzig oder dreißig Mann, die mehr als genug gewesen wären, ein
halbes Hundert entflohener Sklaven einzufangen und zurückzubringen, aber diese Hoffnung erfüllte sich offensichtlich nicht. Er bezweifelte dennoch, dass es tatsächlich Ali Jhins komplettes Heer von
dreihundert Kriegern war, das da heranzog, aber selbst die Hälfte
oder ein Drittel dieser Zahl war deutlich mehr als das, womit sie es
aufnehmen konnten.
Nachdem er eine Zeit lang mit angehaltenem Atem gelauscht und
sich davon überzeugt hatte, das niemand in ihrer unmittelbaren Nähe
war, hob er vorsichtig den Kopf und sah zuerst nach rechts, dann
nach links, und dann noch einmal etwas länger in die Richtung, aus
der sie gekommen waren. Wenn sie auf die Idee gekommen waren,
die Flüchtlingskarawane zu umgehen und sich ihr von vorne zu nähern, wieso dann nicht auch die Sklavenhändler? Andrej hatte es sich
schon vor langer Zeit zu Eigen gemacht, stets von der Annahme auszugehen, dass alles, was ihm einfiel, auch seinen Gegnern einfallen
konnte. Die Männer waren schließlich nicht dumm.
Doch zumindest dieses Mal bewahrheiteten sich seine Befürchtungen nicht. Die Kämme der umliegenden Dünen blieben leer.
»Dort«, sagte Abu Dun plötzlich. »Was geht da vor?« Sein Arm
wies auf das halbe Hundert erschöpfter Gestalten hinab, das sich
rings um das Gebäude in den Sand hatte sinken lassen. Es gab noch
immer eine kurze Reihe vor dem Eingang, die nur allmählich nachrückte, die allermeisten Bewohner von Meruhes Dorf aber hatten
offensichtlich ihren Durst gestillt - oder was immer sie auch dort
drinnen getan hatten - und waren nun kraftlos zu Boden gesunken.
Viele schliefen trotz der bitteren Kälte einfach da, wo sie hingefallen
waren, auf
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