Die Verfluchten
gestürzt.
Sie konnten nichts tun. Wenn sie jetzt aufstanden und sich den
Kriegern stellte, würden sie sterben, ohne ein einziges Leben retten
zu können. Aber der Gedanke, einfach tatenlos dazuliegen und zuzusehen, wie all diese unschuldigen Menschen abgeschlachtet wurden,
war beinahe mehr, als Andrej ertragen konnte.
Gerade, als sich Ali Jhin im Sattel aufrichtete, um seinen Männern
das endgültige Zeichen zum Angriff zu geben, hörte Andrej das leise
Rieseln von Sand über sich, und als er den Kopf hob, blickte er in
Meruhes Gesicht.
Sie war direkt über Abu Dun und ihm wieder auf dem Hügelkamm
aufgetaucht, doch obwohl er ihr so nahe war, dass er sie ohne besondere Mühe mit dem ausgestreckten Arm hätte berühren können,
schien sie keinerlei Notiz von ihm zu nehmen; ja, Andrej war sogar
sicher, dass sie ihn nicht einmal bemerkte. Ihr Blick war starr auf die
Reiter auf der gegenüberliegenden Düne gerichtet, und wenn Andrej
jemals Zorn auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann
jetzt auf ihrem. Vollkommen reglos stand sie da, und selbst der
Wind, der noch einmal zugenommen hatte und mittlerweile winzige
Sandwirbel über dem Dünenkamm entstehen ließ, schien an ihr vorüberzuwehen. Ihr fast hüftlanges Haar schien im blassen Licht der
Nacht fast ebenso dunkel zu sein wie ihr Gesicht und ihre Kleidung,
doch weder ihr Mantel noch ihr Haar bewegte sich. Es war ein unheimlicher, verstörender Anblick.
»Also hast du dich doch entschieden, vernünftig zu sein«, rief Ali
Jhin. Er hielt den linken Arm immer noch erhoben und hatte sich in
den Steigbügeln aufgerichtet; da er den anderen Arm nicht benutzen
konnte, um sein Gleichgewicht auszubalancieren, sicherlich eine
äußerst anstrengende Haltung. Dennoch ging etwas Drohendes von
ihm aus, und genau das hatte er vermutlich beabsichtigt.
»Nein!«, rief Meruhe zurück. »Ich bin gekommen, um dir eine allerletzte Chance zu geben, Ali Jhin. Wenn du und deine Männer leben wollt, dann kehrt um und reitet nach Hause.«
Andrej konnte trotz der großen Entfernung sehen, wie diese Worte
dem Sklavenhändler die Sprache verschlugen. Andrej vermochte
nicht zu sagen, ob Meruhe nun bluffte oder schlichtweg den Verstand
verloren hatte oder ob das ihre Art war, ihr Volk zu retten, ohne dabei das Gesicht zu verlieren, auch, wenn es sie das Leben kosten
musste. Wie sie so dastand, vollkommen reglos, vollkommen
schwarz, ein Schatten, der selbst vor dem Hintergrund des lichtlosen
Nachthimmels noch dunkel und bedrohlich wirkte, bot sie einen beeindruckenden Anblick. Aber sie war allein, und sie stand einer Übermacht von mindestens dreißig oder vierzig Kriegern gegenüber.
Wenn Ali Jhin wirklich beeindruckt war und nicht einfach nur fassungslos, so überwand er das schnell. Einen Herzschlag lang starrte
er noch zu Meruhe hin, dann ließ er sich mit einem Ruck in den Sattel zurückfallen und senkte gleichzeitig den Arm, und seine Krieger
sprengten los.
Im gleichen Augenblick riss Meruhe beide Arme in die Höhe. Ihr
Mantel bauschte sich wie ein Paar riesiger, schwarzer Fledermausflügel, und sie stieß einen hohen, gellenden Schrei aus, einen Laut,
der in den Ohren schmerzte und ebenso wenig ein Ende zu nehmen
schien wie das Klirren der Waffen. Etliche von Ali Jhins Männern
blickten verwirrt auf, zwei oder drei Pferde wieherten erschrocken,
und eines der Tiere verlor im lockeren Sand den Halt, stürzte schwer
auf die Seite und rutschte hilflos weiter hinab, wobei es seinen Reiter
unter sich begrub. Die anderen aber sprengten unbeeindruckt weiter
und schienen sogar noch schneller zu werden, auch, wenn Andrej
nicht sicher war, ob das nicht nur an der Neigung des Hanges lag.
Bevor der Erste unten im Tal angekommen war, brach Meruhes
Schrei plötzlich ab.
Und die Wüste hinter ihr erwachte zum Leben.
Der sternenlose Himmel war von einem Augenblick zum anderen
verschwunden, und an seiner Stelle bäumte sich eine gewaltige,
scheinbar bis zum Himmel reichende Wand aus brodelndem Sand
und kochender Schwärze auf. Aus dem schleifenden Geräusch des
Sandes wurde ein Brüllen und Dröhnen, als brächen hinter dem Horizont ganze Gebirge zusammen, und plötzlich begann der Boden
unter ihnen zu zittern. Aus einzelnen Sandrinnsalen wurde ein jäher
Sturzbach, der sie mit sich in die Tiefe riss, und das ungeheure
Dröhnen und Grollen und Kreischen nahm immer noch weiter zu.
Die Mauer aus Sand raste heran, verschlang die Dünenkuppe samt
Meruhe und
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