Die Verfuehrerin
nach der Geburt ihres Kindes Washington wahrscheinlich verlassen und an die Ostküste zurückkehren würde. Ihr Kind würde einen Namen haben, und sie würde Asher nicht täglich um sich ertragen müssen.
Sie versuchte sich wieder in ihr Buch zu vertiefen, aber nichts vermochte ihre Tränen zurückzuhalten. Sie rannte ins Haus zurück, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, rannte an Samuel vorbei und hinauf in ihr Zimmer, wo sie wieder einmal einen Tag mit Weinen verbrachte.
Am Tag ihrer Hochzeit war der Himmel bewölkt, und es sah nach Regen aus. Mrs. Sunberry half Chris beim Ankleiden, und eine traurigere Vorbereitung der Braut auf ihre Hochzeit hatte es bisher noch nicht gegeben. Mrs. Sunberry liefen die Tränen über die Backen, während sie immer wieder Feststellungen von sich gab wie: »Er ist nicht der Mann, den sich Ihre Mutter für Sie gewünscht hätte.« Oder: »Er hat schon doppelt so viel ausgegeben wie Ihr Vater in einem ganzen Jahr.« Und auch: »Es ist noch nicht zu spät, Ihre Meinung zu ändern.«
Chris mußte jedesmal mit den Zähnen knirschen, wenn die Frau den Mund aufmachte. Asher war Mrs. Sunberry von Anfang an unsympathisch gewesen, weil er sie ständig herumkommandierte, sobald Chris ihm von dem Baby erzählt hatte.
Chris strich ihr weißes Brautkleid glatt, reckte das Kinn in die Luft und verließ das Zimmer.
Ihr Vater erwartete sie am Fuß der Treppe, und es gelang ihm, ihr seinen Arm anzubieten, ohne sie dabei ansehen zu müssen. Der Zorn, den er gegen sie hegte, leuchtete aus jeder Falte seines Gesichts. Samuel ging hinter ihnen und versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber Chris vermutete, daß sich dahinter ein todunglückliches Gefühl versteckte.
Sie hätte die beiden Männer am liebsten angeschrien, daß dies wahrscheinlich nicht passiert wäre, wenn sie sich nicht so heftig eingemischt hätten. Wenn sie Tynan nicht gesagt hätten, daß er ins Gefängnis zurückmüsse, wo er ausgepeitscht wurde und nicht genug zu essen bekam, hätte er sich vielleicht mit dem Gedanken, sie zu heiraten, angefreundet.
Sogleich schossen ihr die Tränen in die Augen, weil sie das nicht eine Sekunde lang glaubte. Es war nicht die Drohung mit dem Gefängnis, die Tynan davon abgehalten hatte, sie zu heiraten. Es war die Tatsache, daß er sie nicht liebte.
Die Kirche war brechend voll. Da waren Leute, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen, und auch viele, die sie überhaupt noch nie gesehen hatte. Auch die Verwandtschaft mütterlicherseits war gekommen, die Montgomerys, die in der ersten Bank standen und zusahen, wie sie langsam am Arm ihres Vaters den Mittelgang entlangschritt. Asher wartete vorne beim Altar auf sie, ein triumphierendes Lächeln auf dem Gesicht.
»Vermutlich denkt er an die Herde von Vollblutpferden, die er sich morgen kaufen wird«, sagte Del leise zu ihr. »Weißt du, warum er mit seinem Geschäft pleite gegangen ist?«
»Ich will es nicht wissen!« zischelte sie zurück. »Er ist der Mann, den du für mich ausgesucht hast.«
»Doch nur als Kontrastfigur. Ich dachte, du wärest klug genug, das zu erkennen.«
»Ich schon, aber Tynan nicht.«
»Du hättest ihn...«
»Ihm Zwillinge auf die Welt bringen können?« fragte sie und funkelte ihn zornig an, als sie den Altar erreichten.
Erst als der Prediger mit der Trauungszeremonie begann, wurde Chris sich des ganzen Ausmaßes ihrer Entscheidung bewußt. Sie versprach mit ihrem Jawort, ihren Mann ihr Leben lang zu lieben, zu ehren, zu schätzen und ihm zu dienen. Tränen stiegen in ihr auf und schnürten ihr den Hals zu, so daß der Pastor sie dreimal um ihre Antwort bitten mußte. Sie merkte, daß Asher sie ansah, als wollte er ihr auf der Stelle eine Ohrfeige geben, wenn sie dem Pastor nicht bald die richtige Antwort gab. Sie konnte hören, wie die Leute hinter ihr bereits unruhig wurden.
Es war in dem Augenblick, wo sie versuchte, eine Antwort zu geben, als die Hölle losbrach. Ein Schuß wurde vor der Kirche abgefeuert, und plötzlich wurde das Gebäude von bewaffneten Männern überrannt: Sie kamen durch die Fenster, durch die Hintertür und aus der Sakristei. Zwei Männer mußten sich oben auf der Galerie versteckt haben, denn sie erhoben sich jetzt mit entsicherten Gewehren, die sie auf die Leute unten im Kirchenschiff richteten.
»Ich würde das an Ihrer Stelle nicht versuchen, Mister«, sagte ein Mann mit einem Revolver, den er auf einen Onkel von Christianas Montgomery-Verwandschaft
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