Die Verfuehrerin
Tagebuch zufolge war Lionel der eigentliche Besitzer der Hamiltonschen Liegenschaften im Washington-Territorium. Lionel war ein Knabe von elf Jahren, und alles, was er besaß, wurde von seinem Onkel als Treuhänder verwaltet, also von Dianas Vetter, den sie schriftlich um Unterkunft gebeten hatte. Und Owen Whitman hatte nun irgendeinen Beweis gefunden, daß Owen Hamilton seinen Neffen um sein Erbe betrog.
Unglücklicherweise fand Chris in dem Tagebuch keine Angabe, was das für ein Beweis war.
Es dauerte Stunden, bis sie das Tagebuch durchgelesen hatte, und dann schlief sie mit dem in Leder gebundenen Buch auf dem Schoß ein. Sie träumte, daß sie Diana Eskridge sei.
»Chris, wachen Sie auf«, sagte Asher und rüttelte sie an der Schulter. »Ich habe sogar mit der Faust gegen Ihre Tür geschlagen, bekam aber keine Antwort. Sind Sie die ganze Nacht auf gewesen und haben dieses Buch durchgelesen?«
Gähnend nickte Chris.
»Ich hoffe, die Lektüre hat sich wenigstens gelohnt. Ich bin eben erst aus der Stadt zurückgekommen und wollte Ihnen nur mitteilen, daß der Sheriff die beiden Leichen geborgen hat. Ich werde mich jetzt zum Schlafen niederlegen. Wir sehen uns dann beim Dinner.«
Chris war zwar müde; aber diesmal wollte sich kein rechter Schlaf mehr einstellen. Sie konnte nur noch an das Tagebuch denken und träumte von den Dingen, die sie darin gelesen hatte. Es war so ungerecht, daß eine so hübsche junge Frau nur Schlimmes in ihrem Leben erfahren hatte. Und was würde nun aus dem armen kleinen Jungen werden, dessen Erbe sie hatte retten wollen? Lionel hatte nun keinen anderen Verwandten mehr außer seinem betrügerischen Onkel.
Bis zum Abend war sie dann davon überzeugt, daß sie dieser jungen Frau, die in ihren Armen gestorben war, etwas schuldig sei. Ihre Leiden und Schmerzen sollten nicht vergeblich gewesen sein.
Beim Abendessen bat sie Asher dann um eine genaue Beschreibung der jungen Frau.
»Chris, wie kann man nur so morbide sein?«
»Glauben Sie, daß sie eine Figur hatte wie ich? Hatte sie auch sonst irgendeine Ähnlichkeit mit mir?«
Als er einsehen mußte, daß sie nicht eher Ruhe geben würde, bis er ihre Fragen beantwortet hatte, tat er ihr den Willen. »Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie mit Ihren Fragen bezwecken?« sagte er leise.
Chris erstickte fast daran, daß sie ihm alles viel zu rasch vortragen wollte. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, begann sie von vorn. Zunächst erzählte sie ihm von dem Tagebuch und der elenden Ehe der Diana Eskridge. »Sie hatte nie eine Chance, glücklich zu sein. Und sie war auf dem Weg zu einer sehr guten Tat. Sie wollte ihren Vetter retten, den ein böser Onkel um seinen Besitz brachte, als sie ermordet wurde.«
Asher blickte auf seinen Teller hinunter. »Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daß es vermutlich der böse Onkel war, der sie umbringen ließ?«
»Natürlich ist mir dieser Gedanke gekommen. Doch die Bitte der Sterbenden lautete, daß ich ihr helfen sollte, Lionel zu beschützen.«
»Und wie gedenken Sie das zu tun? Indem sie zu seinem Onkel gehen und sagen: Entschuldigen Sie, aber Sie bestehlen Ihren Neffen? Und falls das zutrifft, würden Sie dann so liebenswürdig sein, sich für den Rest Ihres Lebens in ein Gefängnis zu begeben?< Wirklich, Chris! Das ist doch absurd!«
Chris holte tief Luft. »Ich hatte mir gedacht, daß ich mich vielleicht als Diana Eskridge ausgeben könnte, da der Vetter seine Kusine ja nie gesehen hat.«
Asher fiel die Kinnlade herunter. Er starrte sie an und sagte: »Aber wenn der Onkel ihres Vetters derjenige war, der diese Diana umbringen ließ - meinen Sie dann nicht, daß er sofort mißtrauisch werden muß, wenn Sie ihm ins Haus schneien?«
»Ich glaube nicht, daß er sich vor mich hinstellen und sagen könnte, ich sei tot - oder?«
»Doch nicht Sie, sondern Diana Eskridge! Damit werden Sie nicht durchkommen. Es gibt zu viel, was Sie nicht von ihr wissen. In welchem Verwandtschaftsgrad stehen Sie überhaupt zu diesem Vetter und Onkel? Vielleicht hatte diese Diana ein Muttermal als Familienkennzeichen. Es gibt tausenderlei Dinge, über die Sie nicht Bescheid wissen. Warum hat sie diesen Onkel nicht schon früher kennengelernt? Nein, Sie werden in dieser Rolle niemals überzeugen können.«
Chris blickte auf ihren Teller nieder und versuchte sich zu beherrschen; aber sie spürte, wie ihr die Tränen kamen.
»Aber was haben Sie denn, Chris?« fragte Asher und langte nach ihrer
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