Die Verfuehrerin
hatte am Abend zuvor noch auf seine vielen Fragen Erwiderungen gemurmelt und ihm zu verstehen gegeben, daß ihre Verlobung mit Tynan nur eine Farce gewesen sei, die ihn vor Rorys Zorn schützen sollte. Asher schien zufrieden, daß sie ihr Verhalten angemessen bereute.
Als sie am Gefängnis vorbeikamen, sah Chris Tynan als schwarze Silhouette hinter dem Zellenfenster. Sie hielt den Kopf hoch erhoben und erwiderte seinen starrenden Blick nicht. Sie würde schon weit von hier entfernt sein, wenn er diese Zelle wieder verlassen durfte.
Weder sie noch Asher waren sonderlich gesprächig während des Ritts, auf dem sie zwar die Pferde nicht abhetzten, sich aber auch nicht so viel Zeit ließen, daß sie die Landschaft hätten genießen können. Mittags legten sie eine Rast für ihre Reittiere ein und verspeisten den muffigen Zwieback, den sie sich als Proviant eingepackt hatten.
Als dann laute, hastige Hufschläge die enge Straße herunterkamen, wäre Chris fast das Herz stehengeblieben. Aber es war weder Ty noch sonst jemand, der sich für sie interessierte. Drei kräftige Männer auf struppigen, mageren Pferden preschten mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbei, die Gesichter hinter heruntergezogenen Hutkrempen versteckt.
»Ich bin froh, daß sie nicht uns gesucht haben«, sagte Asher, als die Männer an ihnen vorbeigaloppiert waren.
Asher, wie gesagt, redete kaum mit Chris, und sie erinnerte sich daran, wie grob sie manchmal zu ihm gewesen war. Als er ihr wieder aufs Pferd hinaufhalf, nahm sie jede Gelegenheit wahr, ihm zuzulächeln. Da Tynan nicht mehr bei ihnen weilte und Chris nicht länger von seinem Licht geblendet wurde, konnte sie Asher mit neuen Augen betrachten. Dies war der Mann, den sie nach dem Wunsch ihres Vaters heiraten sollte. Dieser Mann würde nicht gleich bei jeder Kleinigkeit seinen Revolver ziehen und jemanden totschießen.
Die Sonne stand schon tief im Westen, als sie den umgestürzten Wagen sahen, und nur weil Chris durch den aufgewühlten Boden neugierig geworden war, entdeckten sie ihn überhaupt. Da waren tiefe, frische Furchen im Gras auf der Böschung, die in das Unterholz hinunterführten.
»Lassen Sie uns hier mal kurz anhalten«, rief sie, stieg vom Pferd und rannte in die Büsche hinein. Sie war ein paar Schritte in das Gesträuch vorgedrungen, als sie einen großen alten Reisewagen auf der Seite liegen sah, und darunter lugte etwas hervor, das eine Frauenhand zu sein schien.
Sie rannte wieder den Abhang zur Straße hinauf und rief nach Asher, damit er ihr helfen sollte. »Dort unten!« Sie deutete in die Büsche. »Wir müssen den Wagen aufrichten und sie aus dieser Lage befreien.«
Er zögerte einen Moment und rannte dann mit ihr zu der Stelle, wo der Wagen lag.
Sie konnten nur den Unterarm der Frau sehen; Kopf und Leib der Frau waren unter dem Fuhrwerk begraben.
»Können Sie das anheben?« fragte Chris und deutete auf eine abgebrochene Achse. »Ich werde dann versuchen, die Frau unter dem Wagen herauszuziehen.«
Asher mußte fast seine ganze Kraft aufwenden, um den Wagen so weit hochzustemmen, daß er mit der Schulter darunterkam und nun auch die Beine als Hebel benützen konnte.
»Jetzt!« rief er und hob den Wagen etwas weiter an.
Chris verlor keine Sekunde Zeit, die Frau darunter hervorzuziehen.
Asher kniete neben der Frau nieder und zündete ein Streichholz an, da das Licht der Dämmerung nicht mehr hinreichte, um Einzelheiten zu erkennen. Sie sahen, daß die Frau ganz mit Blut bedeckt war. »Sie hat mindestens drei Einschüsse«, sagte er leise.
»Aber sie atmet noch.« Chris bettete den Kopf der Frau auf ihren Schoß. »Wir werden dich zu einem Arzt bringen«, flüsterte sie der Frau zu, als diese unruhig zu werden begann.
»Mein Mann«, stöhnte die Frau. »Wo ist mein Mann?«
Chris blickte zu Asher hoch, doch der suchte schon die Umgebung des Wagens ab. Chris konnte sehen, wo er plötzlich stehenblieb, sich umdrehte und den Kopf hin und her bewegte.
»Ihrem Mann geht es gut. Er schläft im Augenblick.«
»Können Sie uns sagen, wer Ihnen das angetan hat?« fragte Asher, als er zum Wagen zurückkam.
Die Frau hatte große Mühe beim Sprechen, aus ihren Wunden floß wieder Blut. »Drei Männer«, konnte sie endlich flüstern. »Sie wünschten uns tot, weil wir von Lionel wissen. Wir waren auf dem Weg zu Lionel, um ihn zu retten.«
Plötzlich blickte die Frau zu Chris hoch mit Augen, die so rot waren wie das Blut, das aus ihrem Körper strömte. »Hilf ihm. Hilf
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