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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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konnte den anderen auch noch emporhelfen, bevor auch ihm vor Überlastung kurzzeitig die Sinne schwanden.
    Sie brauchten eine Viertelstunde, um wieder zu Kräften zu kommen. Von hier aus konnten sie die Wolke beinahe berühren. Der weitere Weg sah nicht steil aus, der Berg verjüngte sich nach oben hin rapide.
    Da sie nicht abschätzen konnten, wie innerhalb der Wolke die Sichtverhältnisse waren, seilten sie sich neu aneinander. Anschließend beeilten sie sich, denn die Sonne hatte in ihrem Lauf den Rand der Wolke schon beinahe erreicht, und obwohl es dafür keinen echten Anhaltspunkt gab, obwohl eine Wolke vor der Sonne eigentlich eher Dunkelheit bedeutete, fürchteten sie alle vier eine Lichtentfaltung, wenn die Sonne hinter die Wolke trat. Eine Lichtentfaltung, die dem entsprechen mochte, was Tegden im Land der Affenmenschen beim sogenannten Skorpionshügel bezeugt hatte: ein schneeweißes Blenden, das in seiner Vollkommenheit das Ende allen Lebens anzeigte.
    So hasteten sie in die Wolke hinein. Sie war kühl, erfrischend, Wasserdampf, das Auge behindernd wie Nebel, sie roch nach Schnee, nach Glockenblumen, benetzte die Haut wie feine Spinnwebfäden und schmeckte auf der Zunge nach Zucker. Für einen einzelnen Moment vermeinte Rodraeg voraus die Konturen eines sehr jungen Mammuts erkennen zu können, doch als er blinzelte, war das Tier verschwunden, und er erinnerte sich daran, dass dies nur ein Traum gewesen war, ein Traum aus seiner eigenen Vorzeit.
    Dann stellte Rodraeg fest, dass die Sicherungsseile sich links und rechts von ihm nicht mehr spannten, sondern schlaff von seinen Hüften hingen. Dass er Bestar und Tegden – seine unmittelbaren Seilnachbarn – nicht mehr hatte sehen können, war ihm zuerst als Folge des dichten Wolkennebels erschienen, aber nun erschrak er bis ins Mark. Beide Seile waren durchgeschnitten wie von Tegdens Rasiermesser. Rodraeg blieb stehen und rief nach seinen Gefährten, aber seine Stimme kam sogar ihm selbst flach und kraftlos vor.
    Die Wolke schien alles zu schlucken. Sicht. Geräusche. Bestar. Tegden. Kinjo.
    War es überhaupt möglich, sich hier drinnen zu orientieren? Ja, der Boden stieg nach einer Richtung an und senkte sich in der anderen Richtung ab. Die Lage war also nicht ganz so aussichtslos wie auf der Brücke der brennenden Blumen, wo Rodraeg sich überhaupt nicht zu bewegen getraut hatte, weil er nicht wusste, in welcher Richtung der sichere Tod und in welcher die Heimkehr lag.
    Er machte ein paar Schritte bergabwärts, um sich außerhalb der Wolke wieder mit seinen Gefährten sammeln und eine bessere Strategie besprechen zu können, aber als er begriff, dass er nun schon mehr Schritte gemacht hatte, als er eigentlich vorher in die Wolke hineingegangen war, blieb er abermals ruckartig stehen. Wenn die Wolke sich bewegte, sich um ihn herumformte, mochte sie auch den nächsten Abgrund beinhalten. Den ersten einer beachtlichen Anzahl aufeinanderfolgender Abstürze. Zurückgehen war zwecklos.
    Was immer das hier war, wo und wann immer das hier war – es schien vorerst nur eine einzige sichere Richtung zuzulassen: bergauf, zum Gipfel. Dorthin wandte sich Rodraeg nun und ging, vorsichtig Fuß vor Fuß setzend, alleingelassen tiefer in die unnatürliche Wolke hinein.

7

Das Abhandenkommen der Sternentage
    Â»Oooooorrrrrirrrrrrrrrr! Oooooorrrrrirrrrrrrrrr! Oooooorrrrrirrrrrrrrrr!«
    Â»Keckarrrrrreckeck! Keckarrrrrreckeck!«
    Zuerst waren nur ihre Stimmen zu hören. Dann tauchte der erste Schemen aus dem Silberdunst auf und erschreckte Rodraeg beinahe zu Tode. Schließlich gewöhnte er sich an das Wunder: farbenprächtige Papageien, Kakadus, Sittiche, Tukane und Funkenvögel schwirrten hier oben durch den Nebel. Leicht hingleitendes Leben am Scheitelpunkt des Trockenwaldes.
    Bäume, auf welchen die Vögel hätten Ruhe finden können, gab es nirgends. Rodraeg sah auch nie einen landen oder aufsteigen. Sie schienen beständig zu fliegen, immer wieder sein eingeengtes Sichtfeld durchschneidend und wieder daraus entschwindend, ausgespien und eingesaugt vom Dunst.
    Von Bestar, Tegden und Kinjo war weiterhin nichts zu sehen und zu hören, obwohl Rodraeg noch mehrmals nach ihnen rief. Eigenartigerweise beruhigte ihn die Gegenwart der Vögel ein wenig. Er war nicht das einzige Leben hier oben, also mochte es seinen Gefährten ähnlich ergehen. Sie waren verirrt, aber nicht

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