Die Vergangenheit des Regens
gut wie bezwungen war. Hilfreich war auch, dass die Absturzgefahr durch überschaubare Geländestufen parzelliert war. Man konnte hier oben höchstens fünf, nicht gleich fünfhundert Schritt in die Tiefe stürzen. Aber niemand von ihnen stürzte überhaupt. Sie bewegten sich mit groÃer Vorsicht.
Als letztes Hindernis vor dem Erreichen der Wolke erwies sich eine neuerlich senkrechte Wand von etwa sechzig Schritt Höhe. Sie beschlossen, diese Wand gleichzeitig zu ersteigen, untereinander angeseilt, der Vorderste â Tegden â zusätzlich durch einen oberhalb verankerten Haken gesichert.
Diese Wand forderte ihnen noch einmal alles ab. Sie war von Rissen und vertrocknetem Wurzelwerk durchzogen, und sie war nicht so brüchig wie die Wand weiter unten, die Bestar einzig durch Einkerbung bewältigbar gemacht hatte, aber sie war steil und hoch, und die vier Kletterer spürten nun, dass der gesamte bisherige Aufstieg ihnen bereits in den Knochen steckte. Besonders Bestar, der die Nacht über gearbeitet hatte, war müde. Als er in fünfundvierzig Schritt Höhe abrutschte, riss er â als Zweiter kletternd â mit seinem Gewicht den nach ihm steigenden Rodraeg gleich mit aus der Wand. Kinjo klammerte sich verzweifelt fest, während Tegdens geprellter Arm seinen Tribut verlangte und der Gallikoner nur noch von seiner Hakensicherung gehalten wurde. Der Ruck lieà Tegden vor Schmerz aufstöhnen. Um in der Seilsicherung nicht gleichzeitig zerdrückt und stranguliert zu werden, musste er, während bereits bunte Ringe vor seinen Augen tanzten, seine Sicherung mit dem Rasiermesser durchschneiden und stürzte lautlos in die Tiefe. Die wenigen Augenblicke, die seine Sicherung und Kinjos klammernde Hände jedoch das Gewicht der anderen ausgehalten hatten, retteten ihnen allen das Leben, denn inzwischen hatten sowohl Bestar als auch Rodraeg kopfüber baumelnd neuen Halt gefunden, und Bestars Halt war dermaÃen sicher, dass er sogar den an ihm vorbeistürzenden Tegden abfangen konnte. Tegden krachte dabei mit dem Hinterkopf gegen die Felswand und verlor komplett das Bewusstsein. Mühsam orientierten die anderen drei sich in der Wand neu.
»Wir müssen runter«, krächzte Rodraeg, dem nach seinem Sturz ebenfalls ganz flau zumute war. »Wir müssen Tegden in Sicherheit ablegen.«
»Nein«, widersprach Bestar ihm bestimmt. »Wenn wir runtergehen, schaffen wir es niemals wieder so weit rauf. Wir haben schon über die Hälfte. Weiter jetzt!«
»Aber ⦠aber was machen wir mit Tegden?«
»Ich ziehe ihn mit. Ich schaffe das schon. Los, Jungs!«
»Er hat seinen Haken abgeschnitten. Du bist ungesichert, Bestar!«
»Nur so lange, bis ich das untere Ende von Tegdens Hakenseil erreiche!«
»Das ist mehr als zehn Schritt entfernt! Das schaffen wir nie!«
»Befiehl mir, dass wir umkehren, und ich tuâs!«
Rodraeg zögerte. Befehlen? War es das, was er als Anführer des Mammuts zu tun hatte? Befehlen über jemanden, der vom Klettern viel mehr verstand als er selbst? »Traust du es dir wirklich zu?«, vergewisserte er sich noch einmal.
»Wenn wir noch lange plaudern, nicht mehr.«
»Dann los! Ich bin hinter dir und achte darauf, dass Tegden sich keine weiteren Verletzungen zuzieht.«
»Gut.« Das war Bestars letztes Wort in dieser Wand. Mit grimmigem Gesichtsausdruck zog er sich das annähernd senkrechte Gelände hinauf, den ohnmächtigen Tegden im Schlepptau, die bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit erschöpften Rodraeg und Kinjo hinter sich herführend wie zwei blinde Kinder. Nach mehr als zehn Sandstrichen erst erreichte Bestar die Stelle, wo Tegden sich vorher losgeschnitten hatte, aber er hatte keine Hand frei, sich an dem durchtrennten Seil fachmännisch zu sichern. Also benutzte er es einfach zum Weitersteigen und betete inwendig zu Kjeer, dass der Haken sich oben nicht lösen würde.
Tegden kam wieder zu sich, noch bevor Bestar den oberen Rand erreichte. Keiner von ihnen würde je erfahren, ob sie es ohne Tegdens Wiedererwachen überhaupt geschafft hätten, denn nun konnte sich der Gallikoner wieder selbst festhalten und Bestar empfindliches Gewicht abnehmen. Der Klippenwälder, der vorher zusehends langsamer und zitteriger geworden war, gewann nun wieder an Geschwindigkeit und Selbstvertrauen. SchlieÃlich zog er sich an dem Seil über die Kante und
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