Die Vergangenheit des Regens
nur eine Wunschvorstellung, ein denkbares Extrem, ich selbst gefangen zwischen König und Bettelmann, zwischen hohem Alter und verlorener Jugend.
Doch dann, von einem Augenblick zum anderen, ahnte Rodraeg, mit wem er es hier tatsächlich zu tun hatte. Und er selbst hatte ihm die Münze in die Hand gelegt, widerstandslos, als erste Geste ihrer Wiederbegegnung. Welch Taschenspielertrick! Dieser Mann war Darnock, der Delphior-Oberpriester des Dorfes Bruder Attrik ! Er war mächtiger und magischer, als Rodraeg jemals geahnt hätte.
»Habt ⦠Ihr den Regen hinfortgenommen?«, stammelte Rodraeg. »Weil Ihr als Delphiorpriester über das Wasser gebieten könnt? Aber weshalb? Nur weil die Eingeborenen nicht an Euch und Euren Gott glauben wollten?«
Der Alte lächelte nachsichtig. »Du verstehst immer noch nicht, mein Sohn. Ich bin nicht Darnock. Doch Darnock, Raukar, Rinwe, selbst Naenn und ihr Kind sind alles Teile von mir. Sie sind alle unsere Kinder. Ich habe den Regen nicht fortgenommen. Ich werde ihn euch wiedergeben. Wenn ihr â wie gesagt â noch eine letzte kleine Aufgabe bewältigt.«
»Und ⦠worin soll diese Aufgabe bestehen?«
»Schlagt die Bago! Ganz einfach. Schlagt die Bago. Die Bago ist eine übermannsgroÃe Trommel, mit deren Hilfe die Kenekenkelu seit Jahrhunderten den Regen herbeirufen konnten. Der Klang der Bago ist mächtig genug, mich aus meinen Träumen zu wecken, musst du wissen. Wenn ich gerade wieder einmal meine Pflichten vernachlässige. Oder wenn ich in einer der anderen Welten weile, um meinen Brüdern und Schwestern beim Spielen zuzusehen. Schlagt die Bago, und zwar hiermit.« Er hielt auf einmal einen Stab in den Händen. Der Stab war lediglich einen Schritt lang und aus dunklem Urwaldholz geschnitzt. Sein eines Ende war dicker als das andere. »Gib ihn am besten Kinjo Utanti, dem jungen Geistertänzer. Mithilfe des Stabes wird er in der Lage sein, die Bago zu finden. Sag ihm einfach: Wenn er den Regen hört, führt die Richtung zum Ziel. Kannst du dir das merken?«
»Wenn er den Regen hört?« Rodraeg wusste nicht mehr, was er tun sollte. Musste er diesen in Rätseln sprechenden Alten niederringen? Festhalten, bis Bestar und die anderen heran waren? Sollte er fliehen? Musste er sich gegen eine Einflüsterung zur Wehr setzen? Oder sollte er versuchen, sich so viel wie möglich von dem Gesagten einzuprägen, weil sein Gegenüber nun doch deutlich mehr zu wissen schien als er selbst?
»Das wird Kinjo schon herausfinden«, antwortete der Alte auf die Nachfrage, die Rodraeg schon beinahe wieder vergessen hatte. »Du magst dich wundern, weshalb die Kenekenkelu die Bago nicht mehr selbst schlagen können. Nun, das können sie nicht, weil das gröÃte Tier nun in der Trommel wohnt. Das gröÃte Tier wurde von den Ameisen geweckt und vertrieben, die wiederum von dem königlichen Schatzfinder Lahird Ivaress geweckt und vertrieben wurden. Einige Teile dieser Ereignisabfolge habt ihr ja bereits selbst entschlüsselt. Nun fehlt euch nur noch das Tier und die Trommel. Nimm den Stab an dich, mein Sohn, nur keine Scheu. Die Münze hast du ja auch von mir angenommen, und es ist dir kein Schaden daraus erwachsen.«
Behutsam nahm Rodraeg dem Greis den Stab ab. Der Stab war leicht, als wäre er hohl. Unschlüssig wog Rodraeg ihn in Händen. »Aber auch kein Nutzen.«
»O doch! Ohne die Münze hätte ich nicht lange zu dir sprechen können. Sie hat uns etwas Wertvolles erkauft: Zeit. Während wir uns unterhalten, bewegen sich um uns her nur noch die Vögel. Deine Freunde aber stehen still, so lange, bis der Wert der Münze aufgebraucht ist. Denn dieser Wald und sein Regen sind nicht der Grund, weshalb ich eigentlich mit dir reden wollte, mein Sohn. Es geht um viel mehr als dies. Dieser Wald und sein Regen sind nichts weiter als ein einziger Baustein des groÃen Werkes, das verrichtet werden muss. Um nichts anderes geht es als um die Konkreszenz . Kannst du dir unter diesem Begriff etwas vorstellen?«
»Konâ¦kresâ¦zenz?« Wieder musste Rodraeg den Kopf schütteln.
»Die Zusammenführung zweier Welten. Anders ist die zweite nicht mehr zu retten. Dir ist leider nicht vergönnt gewesen, die Aufzeichnungen Eljazokads aus dieser zweiten Welt in Ruhe zu studieren, aber es lohnt sich wirklich. Die Stadtgarde Warchaims verwahrt sie in ihrem
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