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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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in unmittelbarer Gefahr.
    Der Aufstieg zum Gipfel dauerte noch beinahe eine Stunde. Die Strecke mochte nicht weit sein, vielleicht einhundert, zweihundert Schritt, und allzu steil war der Weg auch nicht mehr. Aber Rodraeg bewegte sich mit sehr großer Umsicht, weil er allenthalben Risse im Gestein oder sogar Abbrüche zu befürchten hatte und weil er nun allein war und von niemandem mehr am Seil gesichert. In dieser Stunde hatte Rodraeg mehrere Sinneseindrücke, die unmöglich wahr sein konnten. Er sah noch zweimal Mammuts – diesmal gigantisch große, zottelige Exemplare, deren Stoßzähne beinahe kreisrund gebogen waren und die sich gegen einen Schneesturm zu stemmen schienen. Ebenfalls zweimal vermeinte er Naenn zu erblicken. Einmal mit, einmal ohne ihr Kind auf den Armen.
    Einmal schimmerte ein Gebäude durch, das er noch nie zuvor gesehen hatte und von dem er dennoch ahnte, dass es sich um den Alten Tempel von Warchaim handelte, lange vor seiner Ruinenwerdung, also in einer anderen Zeitrechnung. Und sogar viermal hatte er den Eindruck, statt auf Felsen durch roten Schnee zu waten. Aber all diese Phantome verschwanden, während Rodraeg sie erblickte; genauer: während sein Gehirn ihnen Namen und Bedeutungen verlieh. Alles blieb unerreichbar und anschließend auch schwer erinnerlich. Rodraeg schrieb das dieser Wolke zu, deren Geruch offensichtlich Halluzinationen begünstigte.
    Als er sich dem absoluten Gipfel näherte und sich dort eine Gestalt aus dem Nebel schälte, war Rodraeg demzufolge nicht allzu beeindruckt. Beeindruckt war er erst, als sich diese Gestalt nicht auflöste, sondern sich, während er sich ihr näherte, auf wahrhaftig anmutende Weise mehr und mehr aus dem Nebel herausformte.
    Diese Gestalt war weder Bestar noch Tegden, noch Kinjo.
    Und dennoch hatte Rodraeg diesen Mann schon einmal gesehen. Ein alter Mann, der damals – vor gar nicht allzu langer Zeit, es war noch nicht einmal einen vollen Mond her – auf dem Boden gesessen hatte und nun stand. In ähnlich abgerissener Kluft wie nun auch wieder. Abermals schien es kurz nach Raureif und Tannenzapfenfeuer zu duften, doch auch das war nur eine Halluzination.
    Der Bettler aus dem Dorf am Lairon See.
    Der Bettler, von dem Rodraeg die Münze erhalten hatte.
    DEs LIchtes FORtbestand.
    Â»Und?«, fragte der Bettler und lachte über das runzlige Gesicht. »Hast du sie noch immer bei dir, nach all den Fährnissen?«
    Ein Papagei, feuerrot und tiefblau, flog vorüber. Rodraeg nestelte in seinen Taschen nach der Münze, holte sie hervor und reichte sie dem Alten, der die Hand nach ihr ausstreckte. Es fühlte sich an wie in einem Traum, so als würde es sich von selbst ereignen und Rodraeg sei lediglich ein Betrachter. Sobald die Münze die runzelige Handfläche des Greises berührte, verflüssigte sie sich, wurde jedoch nicht zu geschmolzenem Silber, sondern zu klarem Wasser. Der Alte führte die Hand zum Mund und schlürfte das Wasser aus seiner Handfläche. »Ahhh! Das tut gut. Ich danke dir, mein Sohn. Wir haben nicht viel Zeit. Deine Freunde werden bald hier sein und uns stören. Ich bin – du hast es dir vermutlich schon gedacht – Delphior, oder auch Delifor genannt, in einer älteren Zeit als dieser.«
    Â»Ihr seid einer der zehn Götter.«
    Â»So ist es.«
    Auf Rodraegs unrasiertem Gesicht bildete sich ein müdes Lächeln aus. Er blickte mit leicht gesenktem Kopf an dem Alten vorbei in den Nebel. Die Farben des Papageis, das war ihm jetzt erst aufgefallen, waren die Farben von Naenns Flügeln gewesen. »Ich verstehe. Hätten wir im Dorf am Lairon See dieses Gespräch geführt, hätte ich Euch nie und nimmer glauben können. Aber hier, auf einem Berg, den wir selbst zu viert kaum bezwingen konnten, in einem Urwald, der uns zu vierzehnt alles abverlangte, hat Eure Behauptung einiges Gewicht. Ihr müsst entweder ein Gott sein – oder ein sehr, sehr machtvoller Magier.«
    Â»Was im Grunde genommen ein und dasselbe ist, mein Sohn«, schmunzelte der Alte zurück. Seine Gesichtszüge waren eigenartig verwaschen und verschattet, beinahe fühlte Rodraeg sich an den Heimlichgeher Raukar erinnert. Aber Raukar war abscheulicher gewesen, wie aus geschmolzenem Wachs geformt, während das Gesicht und der Leib dieses Greises Würde und Anmut ausstrahlten, obschon seine Kleidung nach wie vor die eines der Ärmsten

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