Die Vergangenheit des Regens
Archiv, und wenn Warchaim nicht demnächst in Schutt und Asche versinkt, werden diese Aufzeichnungen für dich einsehbar bleiben. Das Problem besteht darin, dass die Welt, die Eljazokad bereist hat â und Tjarka und Bestar in Teilen ebenfalls â, dem Untergang geweiht ist. Meine ungeduldigen Brüder und Schwestern benutzen diese Welt als Steinbruch, ähnlich wie die Erbauer des Tempelbezirks von Warchaim die Steine des Alten Tempels benutzten, um die Zeugnisse ihrer Verzehnerung zu untermauern. Wir wollen andere Welten erschaffen, neue, bessere, schönere noch als alle zuvor. Also wird eine geopfert, wird aus einer das Material herangeschafft: aus jener mit dem roten Schnee, den blauhaarigen Menschen und den Mammuts. Ganze Landstriche, ganze Provinzen verschwinden dort. Alle Gefüge geraten durcheinander. Es gibt keine Landkarten mehr, und die letzten verbliebenen Bewohner glauben, es hätte nie welche gegeben. Der melancholische König im himmelhohen roten Schloss ist längst hinfortgerissen worden, doch immer noch glauben die Bewohner, dass er bei ihnen lebt. Die alten Freunde und Feinde, selbst das schreckenerregende Etridti Djuzul â ausgestorben. Auch das Stadtschiff von Tengan â auseinandergerissen in Träumen und Querverweisen. Eljazokad hat das alles gesehen. Das langsame Sterben einer märchenhaften Welt. Selbstverständlich gibt es Gegenwehr: Ein letzter Zusammenschluss von Mächtigen hat einen Kämpfer erwählt, ausgebildet und ausgesandt â Udin Ganija, der mit eurer Welt Krieg führt, weil er meint, dadurch die Verheerungen in seiner eigenen verringern zu können. Aber auch eure Welt, dieser Kontinent, ist nicht mehr sicher. Die alten Geister, König Rinwes Erzgegner, rühren sich erneut. Und auch ihr werdet als Steinbruch benutzt. Niemandem von euch, nicht einmal dem weitsichtigsten Magier, ist aufgefallen, dass euch in diesem Jahr die Sternentage genommen wurden. Vier volle Tage, welche die Götter an sich zogen, um andernorts daraus Zeitgeschehen zu erzeugen. Oder hast du eine Erinnerung an die Sternentage dieses Jahres?«
Rodraeg spürte den Boden unter sich schwanken, als schauderte der Berg. Aber der Berg bewegte sich nicht. Es mussten seine Beine sein, die im Begriff waren nachzugeben. »Die Sternentage?«, wiederholte er matt. »Richtig! Sie hätten dieses Jahr zwischen dem Sonnen- und dem Feuermond liegen müssen. Aber ich weià gar nicht mehr, wo ich mich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten habe.«
»Ihr wart in Warchaim und bereitetet eure Reise zur Höhle des Alten Königs vor. In der einsamen Nacht wusstest du nicht, ob du nur einschläfst oder stirbst, denn das Schwarzwachs wühlte längst in deinem Brustkorb. Aber auch das übrige Warchaim dachte nicht daran, ein viertägiges Fastenfest zu feiern. Niemand erinnerte sich mehr daran. Die Monde wechselten, und auf dem ganzen Kontinent beging kein einziger Mensch die Sternentage, obwohl sie seit der Einführung der neuen Zeitrechnung Brauch sind. Niemand spürte oder vermisste etwas. Die Götter nahmen euch vier Tage und jegliche Erinnerung daran und webten daraus ein Stück Historie in ihrer neuen Lieblingswelt.«
Rodraeg versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal bewusst an die Sternentage gedacht hatte. Das war am Abend des Arispfestes gewesen, in dem kleinen Dorf namens Kirna, in dem Bestar Erbsbier getrunken und Rodraeg sein erstes Gebet seit Kinderzeiten gesprochen hatte. Merkwürdig , dachte er. Wie meine Versuche, Kontakt zu den Göttern zu bekommen, jetzt fremdartige Früchte tragen. Wie alles zusammenhängt und auseinander hervorgeht. Als ob alles Leben entweder Magie oder ein Spiel der Götter wäre. Delphiors Rede prasselte über ihn hinweg wie Regen. Rodraeg versuchte mit zunehmender Hilflosigkeit, in diesem Wolkenbruch nicht fortgeschwemmt zu werden, sich nicht aufzulösen wie ein Häuflein Salz. Die Fragen, die in seinem Inneren rumorten, mochten an die Hunderte, wenn nicht Tausende zählen. Doch der alte Mann sprach ungerührt weiter. Ruhig und eindringlich wie ein Dorfschullehrer, der auch Rodraeg einmal in einem fernen, götterlosen Leben in der Provinz Hessely gewesen war.
»Also werdet auch ihr dekonstruiert, ohne dass es euch gewahr wird. Ihr seid von den Göttern verlassen und werdet euch selbst zugrunde richten, voraussichtlich bereits innerhalb des kommenden Jahrzehnts. Der
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