Die Vergangenheit des Regens
würden die Kronen der Bäume Wasser ausschwitzen. »Völlig hat der Wald das Weinen also doch noch nicht verlernt.« Tjarka, die in Rodraegs Nähe lag, lächelte. Für Rodraeg war der Regen eher ein Grund zur Besorgnis, weil er anzeigte, dass sie noch immer weit von ihrem Zielgebiet entfernt waren. Tjarka dagegen freute sich über jeden Tropfen, weil sie diesen Wald schon längst tief in ihr Herz geschlossen hatte. Das Geräusch des Regens klang wie die Musik eines Instrumentes, das aus liegenden hölzernen Stäben bestand und mit Klöppeln gespielt wurde. Rodraeg versuchte an Naenn zu denken. Wenn er in den letzten Nächten wach gelegen hatte, dann immer nur unbehaglich bedrängt von Gedanken an den zum Kleinkind schrumpfenden Riban Leribin, an den Mann, der nicht geboren wurde , an Gauden Endreasis, den ermordeten Stadtgardekommandanten von Warchaim, an Timbare damals und heute, an Kinjo und seine den unterschiedlich gefärbten Nächten angepassten Tänze. Beinahe gar nicht mehr verirrten Rodraegs Erinnerungen sich zu Naenn, die ihn fast das ganze Jahr über beherrscht hatte wie ein wunderschöner, sanfter und stiller Dämon. Nun schien sie unerreichbar ferngerückt. Sie war noch so jung, ein Kind nach menschlichen MaÃstäben, und dieses Kind hatte wiederum ein Kind bekommen, von einem Fremden, einem Gegner. Naenn war bei den Schmetterlingsmenschen im Larnwald und Rodraeg unter seinesgleichen im Regen, im Kreis gehend, aufsteigend, um danach wieder abzusteigen, hinab, um wieder hinaufzukommen. Naenn war ein Traum geworden, entfernter als die Ritter- und Heldenträume seiner Jugendzeit. Naenn war verloren, wie das alte Mammut und sein Haus, wie der Kreis , wie Warchaim und vielleicht auch der ganze Kontinent, und Rodraeg fragte sich, wie er jemals so dumm hatte sein können, Naenn, das Mammut oder den Kontinent für sich behalten zu wollen.
Er schlief ein und träumte von einer winzigen Begebenheit aus dem ersten Abenteuer des Mammuts . Als Migal sie in der Nacht weckte und sie zum Ufer des Lairon Sees führte, bis sie auch das hohle Deng-dengdeng-dengdeng hörten, Zeugnis der Arbeit in der geheimen Schwarzwachsmine der Königin. In Rodraegs Traum klang das Geräusch eher wie Dong-dongdong-dongdong, wie Holz auf Holz. Tjarka und auch Cajin waren Mitglieder der Gruppe, Bestar hustete fortwährend aufgrund einer schweren Vergiftung, das Wasser des Sees war so gut wie verschwunden, blasenwerfend verdampft als Resultat eines Kontinents ohne das Mammut ,und Rodraeg hatte andauernd panische Angst davor, dass Hellas mit dem SchieÃen anfing.
Kinjo Utanti dagegen hatte überhaupt nichts geträumt, also war sein Tanz vergeblich gewesen. »Die Geister waren heute Nacht woanders«, entschuldigte er sich mit einnehmender Verlegenheit.
Den gesamten folgenden Tag über irrte die Expedition durch mehr oder weniger unwegsames, verwuchertes Gelände. Alle waren erschöpft, verschwitzt, verdreckt, übersät mit juckenden Insektenstichen, unbehaglich und â bis auf Tegden â auch nervös, denn alle wussten, dass Timbares geschätzter Zeitplan bereits jetzt nicht mehr aufging: vier volle Tage Marschiererei, und immer noch hatten sie das Trockengebiet, um das es eigentlich ging, nicht erreicht. Immerhin waren ihre Wasservorräte durch den Regen, der sich in übergroÃen Blütenkelchen gesammelt hatte und gegen Mittag verebbte, als sei auch ihm einfach die Kraft ausgegangen, gut gefüllt, und auch das Jagdglück war Jacomer, Tjarka und Enenfe hold, sodass sie eher übersättigt waren, anstatt Hunger zu leiden. Immerhin war es Enenfe im Tagesverlauf gelungen, alle bis auf sich selbst und die beiden anderen Dunkelhäutigen mit seiner Insektenschutzpaste zu imprägnieren, sodass das Neugestochenwerden deutlich nachlieÃ. Immerhin brachte Ijugis einen Scherz fertig über die allgegenwärtigen Stechmücken: »Inzwischen müssten wir eigentlich mit ihnen allen blutsverwandt und somit Mitglieder ihres Schwarmes sein.« Aber mit jedem einzelnen Schritt schien sich die Expedition dennoch weiter von ihren Zielsetzungen und Hoffnungen zu entfernen, und sie machte mehr als tausend Schritte in der Stunde.
Beim Einrichten des Nachtlagers stellte der Erleuchtete den Gataten Enenfe vor Timbare hin und forderte ihn auf, das zu wiederholen, was Enenfe ihm vor einigen Sandstrichen unter vier Augen anvertraut hatte.
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