Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
an etwas, das Jahrzehnte her war. Dabei war es zu Beginn dieses Jahres gewesen. Wie viel kindlicher – und unschuldiger – sie damals alle gewesen waren!
    Ein oder zwei Stunden lang trug Rodraeg einen wabernden Groll gegen Ijugis mit sich herum, weil dieser Selke Birlen keine angemessene Totenfeier zugestanden hatte. Aber dann fiel Rodraeg schlagartig ein, dass Eljazokad auch immer noch unbeerdigt irgendwo im Thostwald herumlag, und alle seine vorgeblichen Freunde vom Mammut B esseres, Wichtigeres und letzten Endes Selbstsüchtigeres zu tun hatten, als sich um das Friedenfinden seiner Seele zu kümmern.
    Und so schwieg Rodraeg und wurde wieder ein Stück älter, und die Vergangenheit rutschte weiter weg in die Ferne, und die Gegenwart gewann an quälendem Gewicht.

    Der Weg blieb abwechselnd steil und abschüssig, dabei stets gefährlich, mit plötzlichen Schluchten und sogar mehrfach untereinandergeschachtelten Senken links und rechts der schmalen Pfade. Die Insekten wurden wieder aggressiver, bissen und saugten an jedem Stückchen Nacktheit, dessen sie habhaft werden konnten. Enenfe sagte, er beschäftige sich während des Wanderns mit der Suche nach Pflanzen, die die Insekten dauerhaft von ihnen fernhalten würden.
    Gegen Abend wurde das Schwirren, Stechen und Flattern zu viel. Timbare wies Enenfe an, die neue Paste an sich selbst auszuprobieren, damit die anderen sich von ihrer Wirksamkeit überzeugen könnten, doch Enenfe lachte nur und sagte: »Das verschenkend! Ich Gatate! Ich in Ruhe von Stichvögel und Spinnengiftig. Ihr sehend! Timba-ré und Kinjo auch viel in Ruhe. Aber ich dich machend in Ruhe mit Salbe!« Er sprach Rodraeg an, warum, wusste niemand. Rodraeg erklärte es sich so, dass Enenfe sich deshalb so viel in seiner Nähe aufhielt, weil Timbare ihn gebeten hatte, den Gataten im Auge zu behalten. Der kleine Mann musste dies irgendwie spüren und kam Rodraeg nun stets freundlich auf halbem Wege entgegen. Oder es hatte etwas mit der Delifor-Münze zu tun, die vielleicht doch keine Fälschung war und dem delphiorbekehrten Gataten Schutz versprach.
    Jedenfalls erklärte Rodraeg sich bereit, Enenfes lindgrüne Paste an sich auszuprobieren. Er war ohnehin über und über mit Kinjos juckreizminderndem Kräuterbrei betupft, da kam es auf ein wenig mehr Medizin und Farbe auch nicht mehr an.
    Enenfe bestand darauf, Rodraeg nackt zu salben, damit der ganze Körper bedeckt würde. Seine Blößen durfte Rodraeg, in einem dichten Gebüsch vor den neugierigen Blicken der anderen verborgen, selbst einreiben.
    Die Salbe roch scharf und provozierte so manchen Scherz, nachdem Rodraeg mit nun leicht grünlich glänzendem Teint wieder aus dem Gebüsch hervorgekommen war. Die Insekten machten aber tatsächlich alle einen großen Bogen um ihn, und schon zehn Sandstriche später rissen sich die übrigen Expeditionsteilnehmer darum, ebenfalls mit dieser Salbe eingerieben zu werden. An diesem Tag reichte Enenfes Vorrat jedoch nur noch für eine einzige weitere Person. Timbare verzichtete, Ijugis ebenfalls, also erhielt Onouk den Zuschlag und durfte sich ganz alleine, von wild wuchernden Orchideen verhüllt, eincremen. Sie zwinkerte Rodraeg zu, als sie nun beide grünlich vor sich hin stanken, aber fortan von Bissen und Stichen verschont blieben. Timbare erteilte Enenfe die unbedingte Anweisung, mehr von dieser Paste herzustellen, und der Gatate suchte und sammelte umtriebig weiter.
    Im Nachtlager am Fuße eines riesigen, mit hängendem Moos bekleideten Baumes tanzte Kinjo Utanti einen neuerlichen Geistertanz mit immer schneller werdenden Umdrehungsbewegungen und verfiel anschließend in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf. Rodraeg erkundigte sich beim Abendessen nach Selke Birlens Lebensgeschichte und fand heraus, dass einzig Ijugis etwas über Selke wusste. »Sie ist im jazatischen Bürgerkrieg Offizierin auf Seiten Nordjazats gewesen. Nachdem der Krieg in einer Eruption unmenschlicher Gewalt endete, hat sie geheiratet und zwei Kinder bekommen, ist aber, denke ich, nie wirklich mit dem Unterschied zwischen einem sämtliche Sinne umfassenden Krieg und einem biederen Familienleben klargekommen. Kaum dass ihre Kinder groß genug waren, auf eigenen Füßen zu stehen, verließ Selke ihre Familie, schnallte sich erneut Kampfleder und Wurfmesser um den älter gewordenen, aber immer noch straffen Leib und suchte nach

Weitere Kostenlose Bücher