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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Gestank vielfältiger und dichter gewesen, beinahe schmeck- und fühlbar wie Spinnweben im Altweibersommer, doch auch hier haftete dem Geruch etwas Hoffnungsloses an, etwas zutiefst Verstörendes. So roch die Angst des Sterbens.
    Sie erreichten das erste Hindernis, das nicht beseitigt, entschärft oder geöffnet worden war: ein schweres Gitter aus Eisen. Jenseits dieses Gitters führte der Gang noch weiter, doch direkt an diesem Gitter – nur auf der anderen Seite – lehnte der Leichnam eines Mannes. Helle, dschungeltaugliche Kleidung. Kurzes, rötliches Haar. Das Gesicht eingefallen und ledrig, entstellt durch den weit aufklaffenden Totenmund, der eigentlich nur dem schlaff abgesackten Unterkiefer zuzuschreiben war, jedoch beständig und fürchterlich zu schreien schien. Die Augen waren ausgetrocknet, der Blick erloschen. Die Hände klammerten sich nicht verzweifelt an das Gitter, sondern der Verstorbene lag wie eingeschlafen neben dem eisernen Netzwerk. Kein plötzlicher Tod, sondern einer der absoluten Erschöpfung. Umgeben war der Tote von drei unterschiedlichen Stemmeisen, mehreren Stangenhaken und Seilschlingen.
    Timbare versuchte das Gitter zu bewegen, scheiterte jedoch. Migal und Ijugis eilten ihm zu Hilfe, aber selbst zu dritt war das schwere Metall kaum anhebbar. »Jetzt könnten wir Bestar und Ukas brauchen«, gab Tegden zu bedenken, aber diese Äußerung alleine reichte schon aus, dass Migal seine Kräfte wütend verdoppelte und es ihnen so – mit lenkender Unterstützung durch Onouk – gelang, das Gitter rasselnd in die Höhe zu wuchten, wo es einrastete und hängen blieb. Dennoch hielt Migal es vorsichtshalber fest, als Timbare und Kinjo darunter hinwegtauchten, um weiter ins Dunkel hineinzuleuchten.
    Es überraschte niemanden, dass es dahinter nur noch wenige Schritte weiterging. Der Gang verbreiterte sich zu einer Kammer, deren Boden mit Trümmern übersät war. Es sah aus, als seien die steinernen Verkleidungen von den Wänden abgeplatzt, hätten den Boden unter Schutt begraben und die lehmigen Wände freigelegt, die porös waren wie ein riesiger Schwamm. Kinjo wühlte noch ein wenig in den Trümmern, aber zu finden war dort nichts mehr. Timbare ging unterdessen schon wieder zu der Leiche zurück und untersuchte sie. Er fand das königliche Siegel auf dem Rucksack und noch einem weiteren Umhängetäschchen. Sämtliche Proviantpackungen und Wasserschläuche waren leer. In den gelblichen, runzlig wirkenden Händen des Toten fand er ein Pergament und einen Schreibstift, der womöglich aus Schwarzwachs gefertigt war. So respektvoll wie möglich entwand er dem Leichnam sein Vermächtnis. Laut las er vor:

    Ich fürchte, dass dies nun das Ende ist.
    Sie haben mich drangekriegt, die kleinen schwarzen Fallenmacher. Mit diesem letzten Scherz hatte ich nicht mehr gerechnet.
    Dabei bin ich so weit gekommen. Jede Luke habe ich gefunden, alle Klingen und Pfeillöcher entschärft, das Rätsel mit den schwarz-weißen Fliesen gelöst, den Gottesanbeterinnen bin ich ausgewichen, alle Türen konnte ich öffnen.
    Was am Ende des Ganges geschah, war Folgendes: Ich konnte den Stein sehen, den weiß glänzenden Larvenstein, von dem die Legenden erzählen. Ich konnte die Königin sehen, ihr wahres Gesicht. Das Gesicht der Amenschen. Ich löste die heilige Larve aus ihren sechs Händen. Die Wand kippte stöhnend nach vorne. Alle Wände versuchten mich zu erschlagen. Es gelang mir, zurückzuspringen in den Gang. Gleichzeitig rasselte hinter mir ein schweres Gitter abwärts und versiegelte den Gang. Vor mir zerbrachen die Wände am Boden in eintausend Trümmer. Und aus dem Lehm dahinter begann Sand zu rieseln, aus Tausenden kleiner Öffnungen.
    Zumindest dachte ich zuerst, es sei Sand.
    Aber es waren Ameisen.
    Tausende. Zehntausende. Hunderttausende und Aberhunderttausende von Ameisen.
    Als hätte ich ein Fass angestochen. Ein Fass, das ein ganzes Meer umfing.
    Ich schäme mich nicht, dies angesichts des sicheren Dursttodes zuzugeben: Ich geriet in Panik. Ich dachte, die Ameisen würden mich fressen. Aber nichts dergleichen geschah.
    Sie ignorierten mich einfach. Sie holten sich lieber die überall herumwimmelnden Gottesanbeterinnen als Nahrung und den Stein. Ja, sie fraßen das Larvenjuwel und wurden glühend dabei.
    Sie füllten den Raum der Königin wie strömender,

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