Die vergessene Frau
Feuer im Herd, damit das schlichte Frühstück aus Haferbrei und aufgewärmtem Tee fertig war, wenn Cara ein paar Stunden später aufstand. Wie üblich war Cara auch an diesem besonderen Morgen um sieben aufgewacht. Doch sie hatte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Von unten war nichts zu hören. Im ganzen Haus war es totenstill.
Sie ging zum Zimmer ihrer Großmutter. Auch dort war nichts zu hören. Sie klopfte an die Tür und rief, aber niemand antwortete. Instinktiv wusste sie, dass etwas Schlimmes passiert war. Als Cara die Tür aufschob, sah sie, dass Theresa immer noch im Bett lag, das Gesicht dem Fenster zugewandt, die gemusterte Decke bis zum Hals hochgezogen.
»Gran?«, fragte sie zaghaft, da sie hoffte, dass Theresa nur verschlafen hatte. Als sie keine Antwort bekam, trat sie näher und fragte lauter: »Granny?«
Auch diesmal reagierte Theresa nicht. Zaghaft griff das Mädchen seine Großmutter an der Schulter. Selbst durch das Baumwollnachthemd spürte Cara, wie steif und kalt ihre Nan war.
Nein, dachte sie. Das durfte einfach nicht passieren.
»Gran?« Cara hörte selbst, wie verängstigt sie klang. Sie rüttelte ihre Großmutter fester. »Gran? Wach auf!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte, bitte wach auf«, flehte sie.
Sie stieß jetzt ihre Großmutter so fest, dass Theresa auf den Rücken rollte. Cara schnappte erschrocken nach Luft und schlug die Hände vor ihren Mund, als sie ihrer Gran ins Gesicht sah: in die leeren, an die Decke starrenden Augen; die offene Front ihres Nachthemdes, aus dem eine welke Brust hing.
Entsetzt fiel Cara auf die Knie und begann das Vaterunser zu rezitieren.
»Vater unser, der du bist im Himmel …«
Vielleicht würde Gott ihr die Großmutter zurückgeben, wenn sie nur genug betete.
Zwei Stunden kniete sie betend neben dem Leichnam. Bis dahin war Cara überzeugt, dass Gott nicht vorhatte, ihre Gebete zu erhören. Erst da erlaubte sie sich zu weinen. Granny Theresa war vielleicht eine kühle und schroffe Frau gewesen, doch sie war während der letzten Jahre der einzige Mensch in Caras Leben gewesen. Unausweichlich hatte sich zwischen Großmutter und Enkelin ein Band gesponnen, und nun, wo Theresa tot war, blieb Cara ganz allein zurück.
Cara wusste beim besten Willen nicht, was sie jetzt tun oder wem sie Bescheid sagen sollte. Aus purer Notwendigkeit war sie für ihr Alter schon sehr selbständig, aber nachdem sie während der letzten sechs Jahre mit niemandem außer Theresa Kontakt gehabt hatte, war sie nicht mehr geübt im Umgang mit Fremden. Ein anderes Kind wäre vielleicht zu einem Verwandten oder zu den Nachbarn gelaufen, um Hilfe zu holen, doch sie kannte keine anderen Erwachsenen. Und nachdem sie so oft gewarnt worden war, ihre Identität geheim zu halten, wusste sie nicht recht, ob sie sich an einen Fremden wenden durfte. Darum schloss sie das Zimmer ihrer Großmutter ab – mit der Leiche darin – und lebte weiter in der Hütte, als sei Theresa noch am Leben.
Während der letzten Jahre hatte auch Theresa kaum noch Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Der einzige regelmäßige Besucher war der Lieferjunge des Lebensmittelhändlers. Seit ein paar Monaten war Theresa nicht mehr in der Lage gewesen, ins Dorf zu gehen, und so schickte der Krämer, der sich um sie sorgte, alle vierzehn Tage seinen Sohn zu ihrer Kate, um ihr die Zeitung und jene Grundnahrungsmittel zu bringen, mit denen sie von jeher das ergänzt hatte, was auf ihren Beeten wuchs.
Ryan Quinn war siebzehn und konnte es kaum erwarten, seinem Vater, dem Laden und der Langeweile zu entfliehen. Er hasste die Botengänge zur Healey’schen Farm, und noch schlimmer fand er, dass er dort mit der alten Mutter Healey reden musste. Sie wurde immer komischer. Obwohl er sich gern für einen harten Burschen hielt, war er noch jung genug, um die Tuscheleien der Kinder über ihre angeblichen Hexenkünste gehört zu haben, und er war darüber hinaus dumm genug, daran zu glauben. Deshalb war er beinahe erleichtert, als er zu ihrer Farm kam und ihm niemand öffnete. Bestimmt war sie weiß Gott wohin unterwegs. Am liebsten hätte er ihre Sachen einfach auf ihrer Türschwelle abgestellt und wäre wieder verschwunden, ohne dass jemand etwas von seinem Besuch erfahren hätte. Aber dummerweise hatte sein Vater ein neues System eingeführt, bei dem alle Kunden einen Zettel unterschreiben mussten, dass sie ihre Waren bekommen hatten. Und so nahm Ryan die gesamte Lieferung wieder mit nach Hause und
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