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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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um sie zu stützen. Als Franny den Kopf hob, um ihrer Freundin zu danken, roch Lily Alkohol in ihrem Atem.
    »Franny!« Sie war schockiert; es war noch früh am Tag. »Hast du getrunken?«
    »Was?« Instinktiv legte Franny die Hand auf den Mund. Im ersten Moment sah sie aus, als wollte sie die Anschuldigung zurückweisen, aber dann schien sie ihre Meinung zu ändern. »Na ja«, meinte sie leicht verlegen, »vielleicht hatte ich ein, zwei Gläschen. Ist das ein Verbrechen?«
    Lily seufzte. »Nein, natürlich nicht. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es in letzter Zeit ein bisschen mehr als das ist, oder?«
    Franny richtete sich auf und schaute sie kühl an. »Ich weiß nicht, was du damit andeuten willst, aber du solltest dir gut überlegen, was du sagst.«
    »Ach, Herzchen, bitte.« Lily wollte keinen Streit und versuchte, möglichst nachsichtig und verständnisvoll zu klingen. »Sei doch nicht so. Ich mache mir nur Sorgen um dich.«
    »Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen«, fertigte Franny sie ab. Dann läutete sie nach Hilda. »So, und jetzt hören wir auf mit dem Unfug und trinken stattdessen eine schöne Tasse Tee.«
    Lily blieb nichts anderes übrig, als dem Wunsch ihrer Freundin nachzukommen.
    Officer Rafferty nahm seinen Job sehr ernst. Viele seiner Kollegen hassten die Streifenfahrten auf dem Highway. Sie fanden die langen Arbeitszeiten anstrengend, schalteten zwischendurch das Radio ein oder hielten irgendwo ein Nickerchen, damit die Zeit verging. Am schlimmsten fanden sie die Nachtschicht, während der kaum ein Auto auf dem Highway fuhr. Officer Rafferty hingegen registrierte jedes vorbeifahrende Fahrzeug, und wenn er den Eindruck hatte, dass ein Auto zu schnell war oder schlingerte, hatte er keine Skrupel, den Fahrer anzuhalten und ihm zu erklären, was er falsch gemacht hatte.
    Ende der Fünfzigerjahre besaßen immer mehr Menschen ein eigenes Auto. Im Aufschwung der Nachkriegsjahre hatte sich das Einkommen der Mittelklasse massiv erhöht, und inzwischen wetteiferten Ford und General Motors darum, ihre Autos auch dem einfachen Volk zu verkaufen. Allerdings brachte dieses neue Phänomen eine ganze Reihe von Problemen mit sich. Bei seiner allerersten Nachtschicht vor inzwischen fünf Jahren hatte ein halbwüchsiger Junge den Wagen seines Vaters ausgeliehen und ihn gegen einen Baum gefahren. Officer Rafferty war als Erster am Unfallort angekommen und hatte gesehen, was zu schnelles Fahren anrichten konnte.
    In dieser Nacht hörte er das Fahrzeug schon lange, bevor er es sah. Er stand gerade neben seinem Streifenwagen und erleichterte sich, als er noch in weiter Ferne das Röhren eines schnell näher kommenden Motors hörte. Er zog den Reißverschluss hoch und hatte sich eben umgedreht, da raste der Wagen – ein weißer Pontiac – vorbei. Das Verdeck war heruntergeklappt, und im Vorbeizischen sah er eine junge Frau hinter dem Lenkrad sitzen, die ein Kopftuch trug, damit ihre Frisur nicht zerzauste. So wie der Wagen vom einen Straßenrand zum anderen pendelte, hatte er das Gefühl, gleich Zeuge eines weiteren tödlichen Unfalls zu werden.
    Er wollte sich gerade hinters Steuer setzen und die Verfolgung aufnehmen, als der Sportwagen ins Schleudern geriet und quer über die Straße pflügte. Es war reines Glück, dass er nicht geradewegs über die Klippe schoss und in die Schlucht darunter stürzte. Rafferty lief zu dem Fahrzeug und sah die Fahrerin – eine rothaarige Frau, wie er feststellen konnte, nachdem das Kopftuch verrutscht war – zusammengesackt über dem Steuer hängen. Der Wagen schwebte seitlich über der Klippe und schaukelte gefährlich. Er versuchte, auf die Fahrerseite zu kommen, doch die Limousine geriet sofort ins Rutschen. Darum kehrte er zur Beifahrerseite zurück und ging in die Hocke.
    »Miss?«
    Obwohl er sie laut angesprochen hatte, reagierte die junge Frau nicht. War sie überhaupt noch am Leben? Wenn sie nicht aufwachte, gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er beugte sich über die Beifahrertür, packte die Frau an der Schulter und versuchte sie aufzusetzen. Sie kippte in den Sitz zurück, und ihr Kopf rollte nach hinten. Über ihrem linken Auge klaffte eine hässliche Schnittwunde; der starken Blutung nach schien sie ziemlich tief zu sein. Aber der Brustkorb der Frau hob und senkte sich weiter, sie war also zumindest nicht tot. Nachdem sich der Officer davon überzeugt hatte, dass die Fahrerin des Wagens noch am Leben war, prüfte er kurz das Fahrzeug. Es

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