Die vergessene Frau
Kindes – ja, das würde hinkommen, oder? Es war ziemlich abwegig, dennoch …
»Ich weiß nichts von einem Kind«, antwortete sie schroff. »Wahrscheinlich war die Kleine eine Ausreißerin, die meine Mutter aufgenommen hat.« Sie gab vor, über die Sache nachzusinnen. »Kann ich sie trotzdem einmal sehen? Vielleicht kommt sie mir ja bekannt vor.«
Während der Polizist das Mädchen holen ging, patrouillierte Margaret in der Stube auf und ab. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie tun sollte, falls sich ihr Verdacht bestätigte. Gleich darauf ging die Tür auf, und Matthew kehrte zurück, ein dünnes, traurig dreinblickendes Mädchen im Schlepptau.
Margaret brauchte nur einmal in die grünen Augen des Kindes zu sehen – diese riesigen, gequälten Augen, die fast das ganze Gesicht einzunehmen schienen – und wusste sofort, wessen Tochter es war. Die Kleine hatte vielleicht nicht das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt, aber diese Augen hätte Margaret überall wiedererkannt. Darum war Franny also vor all den Jahren so überstürzt verschwunden. Sie war nicht nur mit einem Tagelöhner durchgebrannt, sie hatte auch sein Balg im Bauch getragen. Margaret fragte sich, wann ihre Mutter wohl von dem kleinen Bastard erfahren hatte. Sie konnte sich schwach erinnern, dass Theresa irgendwann erzählt hatte, Franny hätte sich bei ihr gemeldet – wahrscheinlich hatte sie ihr Kind damals bei ihrer Mutter abgeladen. Plötzlich ergaben die Ereignisse der vergangenen Jahre Sinn – Theresas Beharren darauf, allein zu bleiben; die abgewehrten Familienbesuche in ihrer Kate; und dass das Obergeschoss tabu war, wenn Margaret doch einmal zu ihrer Mutter kam.
»Und würden Sie sich um das Kind kümmern können?«, fragte der Polizist. »Wenn nicht, werden wir es ins Waisenhaus geben müssen. Es ist zu alt für eine Pflegefamilie.«
Margaret musste sich schnell entscheiden. Sie hatte keine Ahnung, was aus Franny geworden war, aber sie konnte mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass sie sich nicht um ihr Kind kümmerte. Und sie hatte nicht die Absicht, die Fehler ihrer Schwester auszubügeln. Conrad würde bald eintreffen. Sobald er die Kleine sah, würde er bestimmt zum gleichen Schluss kommen, was ihre Abstammung betraf, und darauf bestehen, dass sie das Kind bei sich aufnahmen. Das durfte auf gar keinen Fall geschehen. Wenn es seiner Mutter auch nur halbwegs ähnlich war, dann wollte Margaret es nicht in ihrem Haus und ihrem Leben haben. Sie musste auch an ihre eigenen Kinder denken. Es waren brave, gottesfürchtige Mädchen, und das sollte so bleiben. Ein einziger fauler Apfel konnte eine ganze Kiste verderben.
»Nein, leider nicht«, sagte sie schließlich. »Glauben Sie mir, ich wünschte, ich könnte sie aufnehmen. Aber ich habe fünf eigene Kinder, und wir haben jetzt schon keinen Platz und kein Geld mehr.«
Der Polizist sah die teuer gekleidete Frau mit ihrem neuen Wintermantel, den handgenähten Lederschuhen und der eleganten Handtasche an und fragte sich, wie jemand so kaltherzig sein konnte.
Matthew gab sich Mühe, sich seine Verachtung nicht anmerken zu lassen. »Ich verstehe. Die Behörden werden in ein paar Stunden hier sein und das Kind abholen. Danach brauchen Sie sich nicht mehr damit zu befassen.«
Er sah das arme, dürre Wesen an, das sie schweigend und aufmerksam beobachtete. Seine Mutter hätte die Kleine liebend gern aufgenommen, aber mit zweiundsechzig galt sie als zu alt. Matthew verstand das nicht. Für ihn stimmte etwas nicht mit einem System, das ein Kind lieber in ein Heim steckte, als es bei einer liebevollen Familie zu lassen. Doch leider konnte er nichts daran ändern.
Kapitel 30
Kaum hatte sich Maggie an Mrs O’Donnells Haus gewöhnt, da bekam sie erklärt, dass sie wieder abgeholt würde. Sie nahm ihr Schicksal frag- und klaglos hin, tat einfach, wie ihr geheißen, und packte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. In der Woche, seit man sie neben dem Leichnam ihrer Großmutter gefunden hatte, hatte sie kaum ein Wort gesprochen. Sie stand immer noch unter Schock. Der Polizist und seine Familie waren sehr nett zu ihr, aber ihr war von Anfang an klar gewesen, dass sie sich nicht zu sehr an diese Menschen gewöhnen durfte.
Am folgenden Tag saß Cara zusammen mit Mrs O’Donnell im vorderen Zimmer und wartete auf die Sozialarbeiterin. Punkt zwölf Uhr hielt ein schwarzer Mini Metro vor dem Haus. Eine gehetzt aussehende Frau mittleren Alters in einem braunen Kostüm stieg aus und läutete
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