Die vergessene Frau
er dafür sorgen, dass sie auf die schwarze Liste gesetzt wurde.
Wacklig richtete sie sich auf. »Ich verstehe. Also, es tut mir leid, dass ich dich belästigt habe, Max. Du weißt wohl besser als jeder andere, was deine Frau braucht.«
Sie sagte das mit allem Eigensinn, den sie zu zeigen wagte. Dann ließ sie Max allein sitzen und ging weg, um sich einen starken Drink zu genehmigen.
Max’ Warnung zum Trotz beschloss Lily in der folgenden Woche, sobald Franny aus dem Krankenhaus entlassen worden war, nach Stanhope Castle zu fahren. Sie spielte mit dem Gedanken, ihre Freundin vorab anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich ging immer Hilda, diese alte Hexe, ans Telefon, und die würde nur versuchen, Lily von einem Besuch abzubringen. Darum fuhr sie unangekündigt nach Stanhope Castle. Leider weigerte sich Hilda, sie zu Franny vorzulassen.
»Mrs Stanhope ruht gerade«, erklärte sie ihr.
»Na schön«, sagte Lily. »Dann werde ich eben warten.«
Die Haushälterin presste die Lippen zusammen. »Das wird nichts bringen. Mrs Stanhope hat mich angewiesen, dass sie niemanden sehen möchte, bis sie sich ganz von ihrem Unfall erholt hat.«
Sie standen in der Eingangshalle, als Lily aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, einen vorbeihuschenden dunklen Schatten, so als würde jemand an der Haustür vorbei zum Salon schlüpfen. Sie wandte sich zum Eingang, sah jedoch nichts. Es war wohl eine Lichtspiegelung gewesen. Kurz darauf hörte sie zu ihrer Linken etwas klicken. Sie drehte sich um, und tatsächlich, die Tür war geschlossen – obwohl sie wenige Sekunden zuvor offen gestanden hatte.
»Was war das?« Sie machte einen Schritt darauf zu.
Hilda reagierte sofort und baute sich zwischen ihr und der Tür zum Salon auf. »Das war nur der Wind«, sagte sie. »In diesen alten Häusern zieht es immer.« Sie hatte auf alles eine Antwort.
Lily hätte ihr vielleicht sogar geglaubt, aber im selben Moment meinte sie einen Hauch von Frannys Parfüm zu riechen, Chanel No 5. Franny legte grundsätzlich nichts anderes auf. Natürlich war sie damit nicht die einzige Frau, doch Lily konnte sich nicht vorstellen, dass in diesem Haushalt noch jemand Frannys Duft trug. Ihr Instinkt sagte ihr, dass jemand im Salon herumschlich, und sie war überzeugt, dass es Franny war. Aber was sollte sie tun? Schließlich hielt Hilda ihre Freundin nicht gegen ihren Willen fest. Mrs Stanhope war die Hausherrin, sie bestimmte hier. Wenn Franny sie nicht sehen wollte, dann konnte sie nichts dagegen unternehmen.
»Na schön«, gab sich Lily geschlagen. »Dann fahre ich wieder.«
Sie sah zum Salon hin und hätte Franny gern etwas zugerufen, die mit Sicherheit lauschend hinter der geschlossenen Tür stand. Stattdessen ging ihr, als sie in ihr Auto stieg, nur eine einzige Frage im Kopf herum.
Warum in aller Welt wollte Franny sie nicht sehen?
Später sollte sich Lily wünschen, sie hätte an jenem Tag energischer darauf bestanden, mit Franny zu sprechen, denn einen Monat später hörte sie in den Frühnachrichten, dass die Filmschauspielerin Frances Fitzgerald auf dem Highway 1 die Kontrolle über ihren Wagen verloren habe, über eine Klippe geschleudert und in der Explosion nach dem Aufprall umgekommen sei.
DRITTER TEIL
1960–1962
Schmerzhafte Lektionen
»Die Erfahrung ist ein strenger Lehrer, denn sie stellt die Prüfung vor die Lektion.«
VERNON LAW, BASEBALLPITCHER IN DER MAJOR LEAGUE (*1930)
Kapitel 29
Februar 1960
Eines Morgens, ein paar Wochen vor Caras dreizehntem Geburtstag, wollte Granny Theresa nicht aufwachen.
Zwei Monate zuvor war Franny gestorben. Da niemand von Cara wusste, hatte sie erst aus der Zeitung, die alle vierzehn Tage aus dem Ort gebracht wurde, vom Tod ihrer Mutter erfahren. Es war nur ein kleiner Artikel gewesen, in dem über die Beisetzung berichtet wurde. Cara hatte überrascht festgestellt, dass sie nicht weinen musste, auch weil sie sich weigerte, um die Mutter zu trauern, die sie erst im Stich gelassen und danach vergessen hatte. Sie versteckte den Artikel vor ihrer Großmutter, weil sie die ohnehin verwirrte Theresa nicht zusätzlich beunruhigen wollte.
Im Lauf der Jahre hatten Cara und ihre Großmutter eine feste Routine entwickelt. Theresa erwachte allmorgendlich als Erste, meist schon gegen fünf Uhr, eine Angewohnheit, die sie während der vielen Jahre auf der Farm angenommen hatte. Falls sie einen ihrer guten Tage hatte, stand sie auf, fütterte die Ziege, melkte die Kuh und machte
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