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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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an der Tür. Mit ihrem verkniffenen Gesicht und dem zu einem straffen Knoten frisierten mausgrauen Haar wirkte sie nicht besonders nett.
    »Ich bin Miss Lynch«, stellte sie sich vor, als Mrs O’Donnell öffnete. Sie schaute auf Cara herab, die einen Schritt hinter der älteren Frau stand. »Ist das das Kind?«
    Mrs O’Donnell runzelte die Stirn und erwiderte spitz: »Ja, das ist Cara.« Dann begriff sie, dass sie Cara keinen Gefallen tat, wenn sie sich mit der Frau anlegte, und versuchte zu lächeln. »Vielleicht möchten Sie auf eine Tasse Tee hereinkommen?«
    Mrs O’Donnell hatte den ganzen Vormittag gebacken, weil sie angenommen hatte, dass es Cara den Wechsel erleichtern würde, wenn sie die Frau kennenlernte, bevor sie gemeinsam aufbrachen. Aber die zänkisch wirkende Miss Lynch schien das anders zu sehen.
    »Ach, dafür haben wir keine Zeit«, erklärte sie und musterte abfällig das kleine Haus. »Wir müssen gleich los.«
    Alles geschah viel zu schnell, dachte Cara und merkte, wie sie Angst bekam; sie wollte nicht mit dieser Frau gehen. Flehentlich sah sie zu Mrs O’Donnell auf, doch die nette Lady konnte nicht mehr tun, als Cara zum Abschied noch einmal mitfühlend an sich zu drücken.
    »So, und jetzt los mit dir.« Die fremde Frau packte Cara am Handgelenk und zerrte sie fort.
    Sie waren schon am Auto, als Mrs O’Donnell ihnen nachrief: »Einen Augenblick noch!«
    Miss Lynch blieb widerwillig stehen und drehte sich um. »Was es auch ist, beeilen Sie sich. Wir haben keine Zeit mehr.«
    Die ältere Frau eilte ins Haus und kam mit einem braunen Päckchen wieder heraus. Sie drückte es Cara in die Hand.
    »Da hast du einen Kuchen, wenn du unterwegs Hunger bekommst.«
    Ungeduldig versuchte Miss Lynch Cara ins Auto zu bugsieren, um endlich abfahren zu können. »Und nun komm. Wir müssen weiter.«
    Als Cara erkannte, dass sie allein mit der unfreundlichen Frau wegfahren musste, zerbrach etwas in ihr. Sie riss sich aus deren Griff, rannte zu Mrs O’Donnell und schlang die Arme um den Bauch der Frau.
    »Bitte! Ich will hierbleiben! Ich will nicht mit ihr fahren!«
    Mrs O’Donnell traten die Tränen in die Augen. Sie wünschte, sie hätte dem Mädchen helfen können, aber sie konnte nichts unternehmen. »Es tut mir so leid …«
    Miss Lynch kam angestürmt und zerrte Cara mit sich fort. »Reiß dich zusammen«, zischte sie und marschierte mit ihr im Schlepptau zum Auto zurück. »Noch so eine Szene, und du wirst es bereuen.«
    Sie mussten eineinhalb Stunden fahren. Die meiste Zeit schwiegen sie. Offenkundig hatte Miss Lynch kein Interesse daran, Cara kennenzulernen. Cara hatte beim Lauschen ein paar Fetzen aus Gesprächen zwischen Mrs O’Donnell und ihrem Sohn mitbekommen und wusste, dass sie in ein von der Kirche geführtes Waisenhaus gebracht werden sollte. Cara hatte Jane Eyre gelesen und daher ohnehin Todesängste vor dem, was sie dort erwarten würde, doch der erste Blick auf das St. Mary’s ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Miss Lynch deutete auf ein graues, festungsartiges Gebäude am Horizont.
    »Das Haus wurde früher als Gefängnis benutzt«, sagte sie.
    Der Bau war ursprünglich im siebzehnten Jahrhundert errichtet worden, um während Oliver Cromwells Irlandfeldzug Aufständische einzusperren. Eine riesige, vier Meter hohe Mauer umgab das mächtige Zentralgebäude. Cara fragte sich unwillkürlich, ob die Mauer dazu diente, die Kinder im Waisenhaus oder um den Rest der Welt draußen zu halten. Am Eingang saß eine junge Nonne in einem Wachhäuschen. Sobald sie den schwarzen Wagen kommen sah, eilte sie heraus, um sie durchzulassen: Miss Lynch kam offenbar oft zu Besuch. Die rostigen Eisentore öffneten sich mühsam, die Torangeln bettelten kreischend um Öl.
    Der Wagen fuhr in den kleinen Innenhof, und Cara musste feststellen, dass das Gebäude aus der Nähe nicht weniger abweisend wirkte: kalter grauer Stein, knorrige Holztüren und schmale Schlitze als Fenster. Es gab kaum Grün. Die anderen Kinder, die offenbar gerade Pause hatten, spielten auf dem nackten Beton, nicht auf einem Rasen. Eine ferne Erinnerung erwachte in Caras Geist. Nachdem sie jahrelang auf die Gesellschaft Gleichaltriger hatte verzichten müssen, fiel ihr schlagartig wieder ein, wie lustig es gewesen war, mit Danny zu spielen. Aber schon beim Aussteigen erkannte sie, dass hier nicht so gespielt wurde wie damals. Die Mädchen beschäftigten sich zwar mit Seilspringen, Kästchenhüpfen oder Fangen, doch kein Kind

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