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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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warf sie ein paar Sachen in eine Tasche. Sie musste sofort aufbrechen, ehe sie der Mut verließ.

Kapitel 4
    Whitechapel, London, 1946
    »Werden Sie jetzt endlich was gegen diesen Krach unternehmen?«, wollte Kevin Casey wissen, »oder soll ich mich selbst drum kümmern?«
    Annie Connolly sah seufzend zu dem rotgesichtigen Giganten auf, der in ihrer Küche stand. Sie hätte auf den Ärger gut verzichten können. Endlich waren die Kinder im Bett, und sie hätte am Küchentisch bei einer verdienten Tasse Tee die so seltene Ruhe genießen können. Aber damit war nun Schluss.
    Sie brauchte nicht zu fragen, worüber Kevin sich so ärgerte – sie hörte es selbst. Das Mädchen heulte schon wieder. Eigentlich hätte man es hier unten gar nicht hören dürfen, schließlich hatte es das Zimmer unter dem Dach, doch der Lärm drang durch alle dünnen Böden, schiefen Wände und schlecht schließenden Türen. Das Heulen selbst kümmerte Annie eigentlich nicht, immerhin hatte sie in den letzten Jahren so viele Tränen fließen sehen, dass sie dagegen immun geworden war, aber inzwischen begannen sich die anderen Mieter zu beklagen. Kevin war nicht der Erste. Sie konnte dem großen Mann nicht verübeln, dass er erbost war. Er arbeitete von früh bis spät auf den Docks, um seiner Familie in Irland Geld schicken zu können. Das Letzte, was er brauchte, war ein heulendes Gör, das ihn um seinen verdienten Schlaf brachte.
    Annie stand auf. »Gehen Sie wieder ins Bett, Casey. Ich regle das schon.« Eigentlich hätte sie das gern ihm überlassen, doch es war ihre Pflicht als Vermieterin, dafür zu sorgen, dass alles im Haus glattging. Das gehörte zu den vielen Kreuzen, die sie inzwischen zu tragen hatte.
    Vor dem Krieg war alles viel einfacher gewesen. Anfang der Dreißigerjahre war sie mit dem Schiff aus Irland gekommen und hatte kurz darauf in einem der irischen Clubs ihren Mann Devlin kennengelernt. Genau wie Kevin hatte er auf den Docks gearbeitet, und nachdem er zum Aufseher befördert worden war, hatten sie von seinem Lohn sogar ein eigenes Haus in Whitechapel kaufen können. Das Backsteingebäude aus der Jahrhundertwende stand an der Cannon Street Road und damit mitten im irischen Viertel, das sich nach der großen Einwanderungswelle Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebildet hatte, als zahllose Iren Arbeit auf den nahen Docks gesucht hatten. Damals hatten die Connollys kein schlechtes Leben geführt. Annie hatte zwei Mädchen zur Welt gebracht, im Jahr 1937 Bronagh und ein Jahr später Maureen, und die kleine Familie hatte im East End glücklich und in bescheidenem Wohlstand gelebt.
    Aber dann war der Krieg ausgebrochen.
    Devlin war kein besonders tapferer Mann. Sobald die ersten Männer eingezogen wurden, flüchtete er nach Irland zurück, um sich bei Verwandten zu verstecken, bis der Krieg zu Ende war. Ironischerweise geriet er nur eine Woche vor Kriegsende in Dublin in eine Kneipenschlägerei, bei der ihm jemand eine abgeschlagene Bierflasche in den Kehlkopf stieß. Er verblutete noch an derselben Stelle, mitten auf dem schmutzigen Boden des Pubs, und ließ die fünfunddreißigjährige Annie allein mit drei kleinen Kindern zurück – das dritte, ein Junge namens Daniel, war im Jahr 1943 während eines einwöchigen Familienbesuchs bei Devlin gezeugt worden –, und somit auch ohne Kriegswitwenrente, die ihr zu überleben geholfen hätte.
    Zum Glück blieb ihr wenigstens das Haus. Es war nicht groß – drei schmale Stockwerke hoch mit nur zwei Zimmern auf jeder Etage und einer Außentoilette –, doch es war ihr ganzes Vermögen. Gnädigerweise stand es in einer der wenigen Straßen, die bei den nächtlichen Bombenangriffen verschont geblieben waren, und so zog Annie mitsamt den Kindern in den Keller und vermietete die anderen Zimmer. Kevin Casey war typisch für ihre Mieterschaft. Als Gelegenheitsarbeiter folgte er der Arbeit von einem Ort zum anderen. Inzwischen wohnte er schon ein paar Monate bei ihr und schlief auf einer Matratze in einem Zimmer, das er zusammen mit zwei anderen Männern in ähnlicher Lage bewohnte.
    Für Menschen wie Annie war das London der Nachkriegszeit ein trister, grauer Ort. Nachdem der Sieg gebührend gefeiert worden war, hatte sich herausgestellt, dass sich abgesehen von dem Ende der Bombenangriffe kaum etwas geändert hatte. Die Lebensmittel blieben weiter rationiert; der Wiederaufbau kam nur langsam voran. Menschen wie Annie besaßen auch weiterhin nichts. Trotzdem bemühte sie sich, ihre

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