Die vergessene Frau
gekommen war. Plötzlich fügte sich alles zusammen – das Weinen; der verzweifelte Wunsch, noch länger bleiben zu dürfen. Zwei Straßen weiter wohnte Mrs Riley, die in diesem Viertel als inoffizielle Hebamme arbeitete und die dafür bekannt war, auch andere Dienste anzubieten. Annie hasste die alte Krähe.
»Sie haben also was im Bauch?« Annie fragte das ganz sachlich. »Und Sie sind hier, um es wegmachen zu lassen?«
Das Mädchen sah sie entsetzt an. »Nein, es ist ganz anders«, protestierte es schwach, doch Annie schüttelte schon den Kopf.
»Hören Sie mal, man braucht kein Genie zu sein, um das zu erkennen. Und keine Angst, ich verpfeife Sie schon nicht bei der Polizei.« Es blieb kurz still, dann hörte sich die Hauswirtin fragen: »Und wann lassen Sie es wegmachen?«
Im ersten Moment glaubte Annie, das Mädchen würde noch einmal alles abstreiten, aber dann sackten die schmalen Schultern nach unten, und Tränen der Scham und des Elends traten in die grünen Augen. »Morgen früh«, flüsterte die junge Frau.
Annie seufzte schwer. Es war nicht so, dass sie das Vorhaben des Mädchens verurteilte. Für jemanden, der so jung war wie ihre Mieterin und völlig allein im Leben stand, war das vielleicht die beste Entscheidung. Doch die Vorstellung, dass dieses hübsche junge Ding dieser alten Metzgerin Mrs Riley ausgeliefert wäre, machte ihr zu schaffen. Ein paar Monate zuvor war Annies Nachbarin und Freundin Evelyn Dunne schwanger geworden. Evelyn brachte ihre sechs Kinder schon jetzt nur mit Mühe durch und hatte sich außerstande gesehen, ein siebtes durchzufüttern. Darum hatte sie ihrem Mann nichts erzählt und heimlich Geld gespart, mit dem sie zu Mrs Riley gegangen war. »Wenn ich Glück habe, räumt sie so gründlich auf, dass das nicht noch einmal vorkommt«, hatte sie Annie noch fröhlich erklärt.
Doch ihre Fröhlichkeit war wie weggeblasen, als sie hinterher totenbleich beschrieben hatte, wie sie eine Stunde auf dem dreckigen Küchentisch gelegen und die alte Mutter Riley erst mit einer Stricknadel in ihr herumgestochert hatte, um danach mit einer Häkelnadel den Fötus auszuschaben. Als Annie ihre schmerzgebeugte Freundin sah, hatte sie Evelyn gedrängt, doch ins Royal London Hospital zu gehen, das nur fünf Minuten die Straße hinauf lag, aber Evelyn hatte darauf bestanden, dass es ihr gut gehe. Noch am selben Tag hatte ihre zwölfjährige Tochter sie tot im Bett gefunden, auf einer blutdurchtränkten Matratze liegend. Die Spur hatte die Polizisten bis zur alten Mutter Riley geführt, aber nachdem jeder eisern den Mund hielt, wurde sie nicht angeklagt. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit so etwas davonkam.
»Hör zu.« Diesmal sprach Annie deutlich sanfter. »Vielleicht war ich vorhin ein bisschen voreilig. Wollen wir nicht nach unten gehen auf eine Tasse Tee und überlegen, ob sich nicht doch eine Lösung findet, hm?«
Das Mädchen wirkte so dankbar, dass Annie schon beinahe überzeugt war, die richtige Entscheidung gefällt zu haben.
In der engen Küche erzählte Franny der Frau bei einer Kanne Tee, was ihr in den vergangenen Monaten alles widerfahren war. Es tat so gut, endlich jemandem das Herz ausschütten zu können. Sie hatte sich immer über die Enge der Farm zu Hause beschwert, wo sie ständig den wachsamem Blicken ihrer Eltern ausgesetzt war. Aber hier in London war sie ganz auf sich allein gestellt und musste sofort erwachsen werden, und das war weder einfach noch angenehm. Bis zu diesem Moment hatte sie gar nicht begriffen, wie einsam sie sich fühlte. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie das Gefühl, dass sich jemand für sie interessierte. Und es tat gut, nicht mehr in ihrer kalten, feuchten Kammer zu sitzen. Die Küche war vielleicht alt und abgenutzt, aber sie war sauber, und die Hauswirtin war gar nicht so streng, wie sie anfangs gewirkt hatte.
Annie hörte sich geduldig die Geschichte des Mädchens an, voller Mitgefühl, allerdings auch mit leichtem Missfallen. Das Kind war wirklich atemberaubend naiv. Man stelle sich vor! Es hatte tatsächlich geglaubt, dass es nur nach London zu reisen brauchte, um diesen Sean Gallagher zu finden! Und selbst wenn es ihn gefunden hätte, würde eher Annie vom König persönlich zum Tee eingeladen, als dass dieses Mädchen den Kerl vor den Altar zerren würde.
»Und wie weit sind Sie?«, fragte sie jetzt.
Das Mädchen senkte den Blick, weil es ihm offensichtlich peinlich war, über etwas so Persönliches zu sprechen.
»Im vierten
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