Die vergessene Frau
ich in der Küche oder im Schlafzimmer auf ihn warte. Ich will mehr als das, was du hast.«
Als Theresa hörte, wie ihre Tochter über ihr Leben herzog, zerbrach etwas in ihr. Ohne Vorwarnung versetzte sie Franny eine schallende Ohrfeige. »Wie kannst du es wagen, du dummes kleines Flittchen?«
Fassungslose Stille setzte ein. Franny konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie jemals geschlagen hätte. Natürlich hatte sie im Lauf der Jahre oft genug Prügel bezogen, aber immer nur von ihrem Vater. Erst jetzt wurde ihr wahrhaft bewusst, in welcher Lage sie steckte. Und damit verließ sie all ihr Mut. Plötzlich wurde sie wieder zum Kind, das den Trost ebenjener Frau brauchte, die sie sonst so verachtete. Sie ließ den Kopf in den Schoß ihrer Mutter sinken und begann zu weinen.
»Bitte verzeih mir«, schluchzte sie. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. O Gott, wie ich mir das wünsche.«
Theresa fühlte mit ihrer Tochter. So hatte sie eigentlich nicht reagieren wollen – sie war eben maßlos aufgeregt und enttäuscht. Doch nun konnte sie Franny nicht mehr schimpfen.
»Pst. Hör auf zu weinen«, flüsterte sie und strich ihrem Mädchen über die Haare. »Das muss nicht das Ende der Welt bedeuten. Uns wird schon etwas einfallen, a leanbh. «
Als Franny hörte, dass ihre Mutter sie »mein Kind« nannte, ging es ihr augenblicklich besser. Das bedeutete, dass ihr vergeben worden war. Sie hob den Kopf. »Wirklich?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ganz bestimmt.« Froh, dass sie ihrer Tochter etwas Trost gespendet hatte, lächelte Theresa sie zuversichtlich an. »Ich werde deinem Vater erzählen, was passiert ist. Und gleich morgen früh wird er zu Pater Brian gehen. Der Priester wird mit Conrad Walsh und seiner Mutter sprechen.«
Im ersten Moment verstand Franny sie nicht. Was hatten Conrad und Mrs Walsh mit alldem zu tun?
»Conrad ist ein guter Junge«, fuhr ihre Mutter fort. »Er wird dich gut behandeln.«
Plötzlich begriff Franny, was ihre Mutter da sagte, und sofort wurde ihr wieder übel – nur hatte ihre Übelkeit diesmal nichts damit zu tun, dass sie schwanger war. Conrad zu heiraten mochte ihren Eltern als Lösung erscheinen, aber für sie war das gleichbedeutend mit lebenslänglicher Gefangenschaft. Sie würde enden wie ihre Mutter – dazu verdammt, Kinder zu gebären und großzuziehen. Da wollte sie eher in Schimpf und Schande leben.
Sie hätte ihrer Mutter gern erklärt, was in ihr vorging, doch Theresa hätte sie nie verstanden.
»Und jetzt ab ins Bett mit dir«, befahl die ältere Frau übertrieben fröhlich. »Du wirst schon sehen, bis morgen Abend haben wir alles geklärt.«
Wie im Nebel stieg Franny die Stufen zu ihrer Kammer hinauf. Zum Glück schlief Maggie schon und schnarchte laut, blind und taub für die Welt um sie herum. Franny legte sich auf ihr Bett und zwang sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sie konnte Conrad unmöglich heiraten, das wusste sie genau. Er war ein ganz netter Bursche, und seine finanziellen Aussichten waren besser als die ihrer Eltern früher – wie man hörte, wollte er sich Strom und fließendes Wasser in sein Farmhaus legen lassen –, aber dieser Luxus würde sie nicht für ein Leben ohne Leidenschaft und Abenteuerlust entschädigen. Sie wollte ihre Jahre nicht in Glen Vale fristen müssen. Da draußen gab es viel zu viel zu erleben. Doch wie sollte sie das ihren Eltern erklären? Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie ihre Lebensart und damit alles, wofür sie sich tagtäglich abmühten, gering schätzte? Und welche anderen Möglichkeiten hatte sie denn?
Instinktiv ließ sie die Hand in die Tasche gleiten. Sie zog den Zettel mit der von Sean hingekritzelten Adresse heraus.
England. Sie konnte nach England gehen.
Nein, sagte die Stimme der Vernunft; das konnte sie unmöglich. Es wäre besser hierzubleiben, wo ihre Familie sie unterstützen konnte. Sie wagte es nicht, allein in die Welt hinauszuziehen, nicht in ihrem Zustand, nicht ganz auf sich allein gestellt …
Aber Franny hatte noch nie auf die Stimme der Vernunft gehört, und die Verzweiflung verlieh ihr zusätzlichen Mut. Immerhin hatte sie das Geld, das Sean ihr dagelassen hatte, und sie hatte eine Adresse – einen Ort, an den sie sich wenden konnte. Vielleicht konnte sie ihn dort sogar aufspüren und überzeugen, sich seiner Verantwortung zu stellen.
Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Kommode und zog die Schublade auf. Hastig
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