Die vergessene Frau
Mieter nicht zu übervorteilen. Viele ihrer Landsleute, die es zu etwas gebracht hatten, nutzten ihre Position aus und boten jenen, die keinen Wohnraum mehr hatten, die reinsten Löcher als Zimmer an. Annie war da anders. Aber auch wenn sie versuchte, gerecht zu bleiben, taugte sie nicht zum Opferlamm, wie ihre neueste Mieterin bald feststellen würde.
Nicht genug, dass die junge Frau im Speicher Lärm machte, sie hatte außerdem ein in Annies Augen unverzeihliches Verbrechen begangen: Sie war mit ihrer Miete im Verzug. Die Hauswirtin hatte eigentlich am folgenden Tag ein ernstes Wort mit ihr reden wollen, falls die Kleine sich im Schutz der Nacht aus dem Staub machen wollte, doch die Heulerei beschleunigte die Sache. Während Annie die Stiege erklomm, bereitete sie sich innerlich auf einen großen Krach vor. Schließlich leitete sie kein Wohlfahrtsinstitut. Sie hatte hungrige Münder zu stopfen. Und das durfte sie nicht vergessen, wenn sie mit dem Mädchen redete.
Poch-poch-poch. Franny rollte sich auf ihrem Bett zusammen, als könnte sie sich dadurch vor der Frau hinter der Tür schützen.
»Na los. Machen Sie schon auf. Ich weiß, dass Sie da drin sind.« Franny erkannte die Stimme – eine Frauenstimme mit starkem westirischem Akzent. Es war die Hauswirtin, die sie kennengelernt hatte, als sie vor einem Monat hier gelandet war. Die große, grobschlächtige Frau von Mitte dreißig sah nicht so aus, als ließe sie mit sich spaßen. Als Franny hier eingezogen war, hatte sie zufällig mitbekommen, wie die Wirtin einen Hilfsarbeiter heruntergeputzt hatte, der die Außentoilette verschmutzt hatte, und daraufhin beschlossen, dass sie nie mit Annie Connolly aneinandergeraten wollte. Und nun war genau das passiert.
Es waren erst vier Wochen vergangen, seit Franny ihr Elternhaus verlassen hatte, doch ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Auf ein Schiff nach England zu gelangen war ein Leichtes gewesen. Schließlich reisten viele Frauen allein nach England, meist nach Kilburn oder Cricklewood, Stadtviertel im Norden Londons, wo es viele Fabriken und Arbeitsstellen für frisch eingetroffene Einwanderer gab. Franny hatte ihre Mitreisenden beneidet und sich gewünscht, sie könnte ebenso frisch und sorglos auf ein neues Leben in der Fremde hoffen. Allerdings hatte sie andere Sorgen, schwanger und mittellos, wie sie war.
Nach der Ankunft in London war es für sie nicht einfacher geworden. Bewehrt mit Seans hastig hingekritzelter Adresse hatte sich Franny auf den Weg ins East End gemacht. Mit der U-Bahn war sie bis Whitechapel gefahren, um dort einen Platz zum Übernachten zu finden, bevor sie sich am nächsten Tag auf die Suche nach Sean machte. Aber als sie ausgestiegen war, hatte sie sich in kürzester Zeit in dem übervölkerten, schmutzigen Straßenlabyrinth zwischen dem U-Bahnhof und der Commercial Street verlaufen. In diesem Moment waren ihr die Augen aufgegangen. Sie hatten daheim zwar nicht viel Geld gehabt, doch hier herrschte eine ganz andere Art von Armut: der tief verwurzelte Pessimismus, es nie nach oben zu schaffen. Als Mädchen vom Land, das an einen weiten Blick und grüne Felder gewöhnt war, hatten sie der Lärm und Schmutz völlig verwirrt.
Einen Platz zum Schlafen zu finden war nicht einfach gewesen. Keine Schwarzen, Iren oder Hunde: Das Schild war ihr aus den Fenstern unzähliger Herbergen vertraut. Schließlich hatte sich ein großer, dünner Mann mit dunklem Bart und komischer Kappe ihrer erbarmt. Sie sei im jüdischen Viertel gelandet, hatte er ihr erklärt und ihr dann freundlich den Weg in Richtung Themse und zu Annie Connollys Haus gewiesen. »Die ist auch Irin; wenn du Geld hast, findet sie bestimmt einen Platz für dich.« Das Haus hatte keinen besonders guten Eindruck gemacht, aber trotzdem war Franny erleichtert, dass sie sich ein eigenes Zimmer leisten konnte; auf der Überfahrt hatte sie zu viele Geschichten über mehrfach belegte Zimmer zu hören bekommen.
Doch als sie die winzige Dachkammer gesehen hatte, hatte sie begriffen, dass sich ihr Glück in Grenzen hielt. Der Raum war bestenfalls zweieinhalb mal zweieinhalb Meter groß, und die Dachschräge war so steil, dass Franny nur in der Mitte der Kammer aufrecht stehen konnte. Manchmal wanderte sie lieber durch die eisigen Straßen, als in ihrer bedrückenden Unterkunft zu hocken – vor allem, da es dort kaum wärmer war. Inzwischen war es schon fast Dezember und so kalt, dass sie morgens beim Aufwachen Eiszapfen am Fenster hängen sah –
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