Die vergessene Frau
verbrachte er oft in Cork. Da er zum Abendessen nicht aufgetaucht war, hatte die Familie einfach angenommen, dass er länger in der Stadt geblieben war. Franny klärte sie nicht auf. Falls jemand sie gefragt hätte, warum er so plötzlich verschwunden war, wäre sie wahrscheinlich sofort in Tränen ausgebrochen und hätte alles erzählt, und das ertrug sie noch nicht. Schließlich wurde es dunkel, und Maggie erklärte, dass sie ins Bett ging. Franny hätte sich für ihr Leben gern ebenfalls hingelegt und in aller Stille über den heutigen Tag nachgedacht, aber sie blieb lieber unten, weil sie die bissigen Bemerkungen ihrer Schwester fürchtete.
Die nächste Stunde verbrachten Franny und ihre Eltern in der kleinen Wohnstube vor dem Radio. Bei Sendeschluss war auch das Feuer niedergebrannt, und die letzten Scheite lagen dunkelrot glimmend im Ofen.
Michael stand auf. »Ich lege mich hin.« Ohne seiner Frau auch nur einen Kuss zu geben, verschwand er wortlos nach oben.
Als Franny seine Schritte auf der Stiege hörte, räkelte sie sich. »Ich glaube, ich gehe auch ins Bett, Mam.«
Ohne von ihrer Strickarbeit aufzusehen, sagte Theresa: »Nicht so schnell, Mädchen. Jetzt, wo wir endlich alleine sind, sollten wir uns in aller Ruhe über das unterhalten, was sich zwischen dir und Sean Gallagher abspielt.«
Franny erstarrte, und ihre Gedanken überschlugen sich. Hatte Maggie sie verpetzt? Das erschien ihr unwahrscheinlich. Und das bedeutete, dass ihre Mutter einen Schuss ins Blaue abgegeben hatte und sie sich immer noch mit einer dreisten Lüge retten konnte.
Möglichst gleichmütig fragte Franny: »Was in aller Welt meinst du damit?«
Sofort spannten sich Theresas Gesichtsmuskeln an. Sie legte das Wollknäuel und die Nadeln beiseite und beugte sich mit vor Wut funkelnden Augen in ihrem Lehnstuhl nach vorn.
»Oh, versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Mädchen«, zischte sie. Sie sprach nur leise – alles, was über ein Flüstern hinausging, war im ganzen Haus zu hören –, aber ihr Zorn war trotzdem unüberhörbar. »Ich weiß schon seit Wochen, dass ihr beide etwas miteinander habt, bis jetzt habe ich mich allerdings blind gestellt – wie dumm von mir.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht fassen, wie töricht sie gewesen war. »Ich dachte, du würdest mit diesem … diesem Strolch nur ein bisschen poussieren. Aber so krank, wie du heute aussiehst …«
Theresa schloss kurz die Augen, so als hoffte sie, dadurch würde sich alles in Wohlgefallen auflösen. Doch als sie Franny wieder anschaute, hatte sich ihre Miene weiter verhärtet. »Und?«, wollte sie wissen. »Er hat dir was angehängt, nicht wahr?«
Franny zögerte kurz und nickte dann zaghaft.
»Und jetzt hat er das Hasenpanier ergriffen, habe ich recht?«
Wieder nickte Franny.
Damit war die Zwangslage in vollem Umfang offenbar. Theresa betrachtete ihr schönes, eigensinniges Mädchen, das schon immer ein schwieriges Kind gewesen war, und hätte am liebsten geweint.
Als Franny sah, wie enttäuscht ihre Mutter sie anblickte, verlor sie die mühsam gewahrte Fassung. »Es tut mir so leid, Mam – so furchtbar leid. Aber ich liebe ihn, und ich dachte, er liebt mich auch. Ich weiß, es war falsch, mich mit ihm einzulassen, aber er hat mir fest versprochen, dass er mich heiratet.«
Theresa grunzte abfällig. Sie wollte gar nicht hören, wie sich ihre Tochter zu rechtfertigen versuchte. »Hast du nur Stroh im Kopf? Er hätte dir das Blaue vom Himmel versprochen, um dich in sein Bett zu kriegen.«
»So war es nicht!«, zischte Franny, verzweifelt bemüht, dass ihre Mutter sie verstand. »Wir hatten alles geplant. Er wollte mich aus Glen Vale herausholen. Vielleicht kommt er mich noch holen …«
»Du willst mir doch nicht erzählen, dass du wahrhaftig geglaubt hast, er würde dich mitnehmen?«, fiel Theresa ihr angewidert ins Wort. »Männer wie der sind immer nur auf eines aus. Und sobald sie das bekommen haben, sind sie weg. Auf so einen kannst du dich nicht verlassen.«
»Wer will denn schon einen verlässlichen Mann?«, schoss Franny zurück. Plötzlich sprudelte alles aus ihr heraus, was sie empfand. »Ist es wirklich so schlimm, dass ich mir ein kleines bisschen Leidenschaft gewünscht habe? Denn die hat Sean mir geschenkt. Ich will nicht in Glen Vale versauern, wo ich nichts von der Welt zu sehen bekomme. Ich will mich nicht mein Leben lang auf einer Farm abrackern, immer unter der Knute eines Ehemanns, der von mir erwartet, dass
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