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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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sich den Wünschen ihrer Mutter zu beugen. Was blieb ihr auch anderes übrig?
    Es war ein langer Tag gewesen. Inzwischen waren sie seit achtzehn Stunden unterwegs: acht Stunden vom Bahnhof Euston nach Holyhead, dann vier Stunden über die raue Irische See zu den Docks von Dun Laoghaire, gefolgt von der Zugreise nach Galway. Vor dem Bahnhof hatte Franny einen Pferdekarren ausfindig gemacht, der sie nach Recess bringen würde, ein Dorf nicht weit von der Hütte, in der ihre Mutter inzwischen lebte. Weil Franny noch allzu gut wusste, wie kalt es in den offenen Tälern werden konnte, hatte sie darauf geachtet, dass Cara und sie für die Reise warm genug eingepackt waren. Aber als der Klepper jetzt über den Kiespfad durch die Sümpfe trottete, die für diese bergige und regnerische Gegend im Westen Irlands typisch waren, begriff Franny, dass zwei Jacken und ein Mantel längst nicht ausreichten, um den Winter in Galway zu überstehen.
    Erst nach Mitternacht erreichten sie Recess. Bis dahin waren die Straßen menschenleer, und alle Häuser lagen im Dunkeln.
    »Da wären wir.«
    Der Kutscher ließ das Pferd auf dem Platz anhalten. Weil er annahm, dass Mutter und Kind im Ort übernachten würden, wies er sie auf einige Unterkünfte hin. Franny tat so, als würde sie ihm aufmerksam zuhören.
    Cara war während der Fahrt eingeschlafen. Nun weckte Franny sie auf.
    »Liebling?« Sie sah auf ihr schlafendes Kind. Cara rührte sich, murmelte vor sich hin und wollte nicht wach werden. »Jetzt komm, mein Schatz«, drängte Franny. »Sei ein braves Mädchen und tu, was deine Mam will.«
    Franny warf die Tasche auf das Kopfsteinpflaster, stieg aus dem Wagen und drehte sich um, um ihre Tochter herunterzuheben. Franny sackte ein wenig unter dem Gewicht des Mädchens ein. Cara war ein dünnes kleines Ding, aber mit ihren sieben Jahren war sie trotzdem so schwer, dass ihre Mutter sie nicht mehr lange tragen konnte.
    » Slán leat«, sagte der Kutscher auf Gälisch.
    Franny schaute ihn finster an. »Ihnen auch einen schönen Abend«, erwiderte sie betont auf Englisch. Das gehörte zu den Dingen, die sie an Connemara besonders irritierten – dass die Einwohner so starrköpfig darauf beharrten, das veraltete Gälisch zu sprechen.
    Franny nahm ihre Tochter an der Hand und hob ihre Tasche auf. Da der Kutscher nicht wissen sollte, wohin sie gingen, marschierte sie in die Richtung los, in die er gezeigt hatte. Sobald das Pferd um die Ecke geklappert war, machte sie jedoch kehrt und ging in entgegengesetzter Richtung aus dem Dorf hinaus.
    Wie in Connemara nicht anders zu erwarten war nachts kein Mensch auf der Straße. Wenn man tagsüber lang genug unterwegs war, begegnete einem vielleicht jemand, der Torf stach oder Rinder oder Schafe trieb, aber jetzt, in der Eiseskälte der Winternacht, war der ganze Ort wie ausgestorben. Franny hatte befürchtet, dass sie sich vielleicht verlaufen könnte, wenn sie niemanden nach dem Weg fragen konnte. Doch zu ihrer Überraschung fand sie selbst im Dunkeln ohne Schwierigkeiten den Weg zur Hütte ihrer Tante. Auf dem langen Weg erwachten die Erinnerungen an die Ferien, die sie als Kind hier verbracht hatte. Manchmal war es hier richtig schön gewesen, zum Beispiel als ihr Bruder ihr das Schwimmen beigebracht hatte. Maggie war zu feige gewesen, um mitzumachen, darum hatten Patrick und sie allein gewettet, wer länger tauchen konnte oder wer vom höchsten Felsen in das unruhige Wasser sprang.
    Anfangs kamen Franny und Cara immer wieder an Häusern oder Katen vorbei, aber je weiter sie sie sich vom Ort entfernten, desto einsamer wurde es, bis die einzigen menschlichen Behausungen am Wegrand verfallen und überwuchert dalagen, weil die Bewohner längst nach Amerika ausgewandert waren. Da der Weg nur vom matten Schein des Halbmondes über ihnen erhellt wurde, konnten sie kaum etwas erkennen. Franny musste aufpassen, wohin sie trat, damit sie nicht bis zum Knie in einem Sumpfloch versank. Connemara zeichnete sich durch seine dramatische und abwechslungsreiche Landschaft aus, und so führte sie der Weg erst über einen Berg und dann in ein bewaldetes, sumpfiges Tal; sogar in der Dunkelheit konnte Franny das Weiß der sanft im Wind treibenden Nebelschleier ausmachen. Sie fragte sich, wie Cara, die ihr ganzes Leben in der Enge von Whitechapel verbracht hatte, wohl die Weite und die frische Luft empfand.
    Nach anderthalb Stunden hatten sie schließlich ihr Ziel erreicht – die Hütte, in der früher Frannys Tante

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