Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
Vom Netzwerk:
gelebt hatte. Sie stand auf einer grünen Anhöhe, nach Norden gegen die Twelve Pin Mountains ausgerichtet, die sich jenseits der sanft gewellten, mit Connemara-Ponys gesprenkelten Hügel erhoben. Im Süden lag die kalte, zerklüftete Schönheit der Galway Bay und der Aran Islands.
    Die Kate war, wenn das überhaupt möglich war, in noch schlechterem Zustand, als Franny in Erinnerung hatte. Am besten erhalten war noch das sorgfältig gedeckte Reetdach über den groben Natursteinmauern. Vorn gab es eine zerkratzte Holztür, der das Alter an den Astlöchern anzusehen war, und dazu vier kleine windschiefe Fenster – nicht größer als zwei Handspannen, damit die Kälte nicht ins Haus dringen konnte; und eines davon ohne Glasscheibe, wahrscheinlich, weil ein starker Windstoß es zerschmettert hatte. Im Erdgeschoss brannten die Öllampen, was darauf hindeutete, dass Theresa ihren zweiten Brief mit dem Ankunftsdatum erhalten und daraufhin beschlossen hatte, auf sie zu warten. Bedeutete dieser Empfang, dass ihr vergeben worden war? Jetzt, wo Franny hier war und ihrer Mutter gegenübertreten sollte, die sie vor vielen Jahren im Stich gelassen hatte, verließ sie plötzlich der Mut. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und klopfte an die Tür.
    Gleich darauf hörte sie ein Schlurfen und ein paar halblaute Flüche, dann ging das Licht hinter der Tür an. Eine Sekunde später flog die Haustür auf.
    Franny erstarrte vor Schreck. Die vergangenen sieben Jahre waren nicht gnädig zu ihrer Mutter gewesen. Der Tod ihres Mannes Michael hatte Theresa tief getroffen und ihr Haar weiß werden lassen; sie ging gebeugt, als müsste sie die Last des Schicksals, das ihr vom Leben zugeteilt worden war, auf ihren Schultern tragen. Mit ihren sechzig Jahren war sie zur alten Frau geworden.
    Franny merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. »O Mammy.« Sie umarmte den dünnen, knochigen Leib ihrer Mutter, als wollte sie damit die verflossenen Jahre ungeschehen machen.
    Aber Theresa, die noch nie viel für Gefühlsausbrüche übriggehabt hatte, hielt ihre Tochter nur ein paar Sekunden lang fest, bevor sie sich aus ihrer Umarmung löste. »Jetzt sei nicht albern, Kind«, erklärte sie barsch mit tiefer Stimme.
    Es war nicht gerade die Begrüßung, die Franny sich erhofft hatte, doch sie überspielte ihre Enttäuschung.
    »Hier, Mam«, sagte Franny gezwungen fröhlich, so als wäre dies eine glückliche Familienzusammenführung. »Es ist höchste Zeit, dass du deine Enkelin kennenlernst.« Sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die halb hinter ihr stand. »Und da versteckt sie sich. Das ist Cara.«
    Cara stand schüchtern neben ihrer Mutter und verbarg sich ängstlich hinter ihrem Rock. Die alte Frau sah sie teilnahmslos an.
    »Das ist das Mädchen also.« Sie sagte es völlig gefühllos, wie eine bloße Feststellung. Sie zeigte nichts von der Neugier und Anteilnahme, die Cara erwartet hatte. Im Zug und auf dem Schiff war Cara ständig von Fremden getätschelt worden und hatte Süßigkeiten geschenkt bekommen. Das Gleiche hatte sie auch von ihrer Großmutter erwartet. Stattdessen trat die alte Frau nur einen Schritt zurück und meinte: »Kommt lieber aus der Kälte. Ein krankes Kind pflegen zu müssen wäre das Letzte, was mir im Moment fehlt.«
    Ängstlich sah Cara zu ihrer Mutter auf und hoffte, dass sie beide auf der Stelle umdrehen und heimfahren würden. Ihre Großmutter war kein bisschen warmherzig und kinderfreundlich, sondern nur alt und gemein. Mit ihren schlohweißen Haaren, den kalten Augen und dem Buckel erinnerte sie Cara an die Hexen aus ihren Märchenbüchern. Bei dem Gedanken schauderte die Kleine unwillkürlich und packte die Hand ihrer Mutter fester. Wenn sie gewusst hätte, was sie hier erwartete, wäre sie bestimmt nicht mitgekommen.
    Gut eine Woche war vergangen, seit ihre Mutter sie gefragt hatte, ob sie Lust auf ein kleines Abenteuer hätte. Cara hatte gespannt zugehört, während ihre Mutter ihr erklärt hatte, wohin sie fahren würden. Sie würden nach Irland reisen, hatte sie gesagt, um ihre Großmutter zu besuchen. Cara hatte sich schon immer gefragt, wie es wohl wäre, mehr Verwandte kennenzulernen, und war sofort einverstanden gewesen.
    Schade war nur, dass sie dadurch ein paar Tage von Danny getrennt wäre, aber das wurde von Caras Vorfreude auf die Reise aufgewogen. Und auf dem Weg gab es so viel zu erleben und zu sehen. Der Bahnhof Euston war geschäftig, laut und heiß. Danach folgte die lange Bahnfahrt aus

Weitere Kostenlose Bücher