Die vergessene Frau
keinen Tee trinken – sie hatte nur nach einem Vorwand gesucht, unter dem sie noch ein paar Minuten zusammensitzen konnten. Aber natürlich war ihre Mam blind für den ausgestreckten Olivenzweig. Sie beschloss, direkt auf den Punkt zu kommen. »Könntest du fünf Minuten aufhören aufzuräumen und mit mir reden?«
»Was gibt es da zu reden?«
Franny merkte, wie ihr die Galle aufstieg. »Also, ich fände es nett, etwas über meinen Vater zu hören.«
Theresa drehte sich zu ihr um. »Deinen Vater? Du möchtest etwas über deinen Vater hören? Du hast ihm das Herz gebrochen, als du so sang- und klanglos verschwunden bist. Das hat ihn so sicher umgebracht wie eine Kugel in den Kopf.« Franny holte scharf Luft, aber ihre Mutter war noch nicht fertig. »Acht Jahre ohne eine einzige Zeile, und dann meldest du dich nur, weil du etwas von uns brauchst. Du hast dich kein bisschen verändert, habe ich recht? Immer noch genauso eingebildet und selbstsüchtig.«
Tränen brannten in Frannys Augen. »Du hast dich genauso wenig verändert, Mam«, erklärte sie bitter. »Immer noch hackst du bei jeder Gelegenheit auf mir herum.«
»Jemand muss durch deinen Dickschädel dringen.«
Wie so oft über viele Jahre hinweg standen sich Mutter und Tochter wütend gegenüber.
Franny wandte als Erste den Blick ab. Sie bemühte sich vergebens, erkannte sie enttäuscht. Heute Abend würden sie sich nicht annähern.
Sie stand auf. »Es ist schon spät, und ich muss schlafen gehen. Ich muss morgen sehr früh los, lange bevor du aufwachst.«
Den letzten Satz hatte sie in einem letzten Versöhnungsversuch angefügt, um ihrer Mutter begreiflich zu machen, dass sie sich länger nicht sehen würden. Aber ihre Mutter antwortete nur: »Schön. Sorg nur dafür, dass dein Balg weiß, wie es sich zu benehmen hat, wenn du weg bist.«
Franny schauderte für ihre Tochter. »Cara ist ein braves Mädchen. Sie macht dir bestimmt keinen Ärger.«
Theresa lächelte giftig. »Dann ist sie dir weniger ähnlich, als ich befürchtet habe.«
Kapitel 10
Am nächsten Morgen wachte Cara zum ersten Mal, seit sie denken konnte, allein im Bett auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Normalerweise hörte sie draußen den Lärm der geschäftigen Straßen im East End. Dann fiel ihr der gestrige Tag wieder ein – die lange Reise und die Begegnung mit der grässlichen Großmutter, die sie offenbar nicht leiden konnte. Sie sah sich um und entdeckte, dass die Sachen ihrer Mutter verschwunden waren. Plötzlich bekam die Kleine schreckliche Angst. Sie konnte doch nicht allein hierbleiben. Vielleicht konnte sie ihre Mutter noch aufhalten, wenn sie sich beeilte …
Cara schlüpfte in ihre Sachen, rannte aus der Kammer und lief nach unten, wo sie jemanden Frühstück machen hörte. Doch als sie in die Küche kam, sah sie nur ihre Großmutter, die allein den Tisch deckte. Als Theresa das Kind hörte, sah sie auf. Die beiden blickten sich kurz an: die alte Frau und das Mädchen. Cara traute sich nicht zu fragen, wo ihre Mutter war. Aber offenbar ahnte die Frau, wonach sie Ausschau hielt, denn sie sagte: »Die ist schon weg.«
Ihr barscher Tonfall traf Cara wie eine Ohrfeige. Sie merkte, wie sie jede Hoffnung verließ. Sie saß hier fest, bei dieser grässlichen alten Frau und weit weg von den beiden Menschen, die ihr in dieser Welt am wichtigsten waren: ihrer Mutter und Danny. Dass sie weinte, merkte sie erst, als ihre Großmutter ärgerlich den Kopf schüttelte.
»Hör auf zu heulen, Kind, und iss dein Frühstück. So ein Getue wegen der paar Wochen …«
Um ihre Mutter nicht schlecht dastehen zu lassen, versuchte Cara ihre Tränen so gut wie möglich hinunterzuschlucken. Sie schniefte ein letztes Mal, bohrte dann tapfer ihre Fingernägel in die weiche Handfläche und setzte sich an den Küchentisch. Der Boden war uneben, und der Tisch kippelte, aber Cara wagte es nicht, sich zu beschweren. Eine Schüssel wurde vor sie hingestellt, in die Theresa Haferbrei löffelte.
Cara sah angewidert auf den Brei. Wenn sie etwas hasste, dann Haferbrei mit seiner grauen Farbe und der schleimigen Konsistenz. »Kann ich auch Brot mit Marmelade haben?«
»Warum?«
»Weil ich keinen Haferbrei mag«, antwortete Cara kleinlaut.
»Du isst, was auf den Tisch kommt, oder gar nichts.«
Ihre Großmutter setzte sich an den Tisch und begann das Porridge aus ihrer eigenen Schüssel zu löffeln, um ihr zu zeigen, dass das Gespräch damit beendet war.
Cara hatte kurz mit dem Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher