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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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mitverantwortlich gefühlt hatte, dass sie wie die Raben gestohlen und sich an Schwarzmarktgeschäften beteiligt, dass sie geraucht und mit scharfer Munition gespielt hatte, kurz, dass sie »erwachsene Kinder« waren. Unkontrolliert und eigenständig hatten sie schon in den Trümmern ihre eigenen Regeln untereinander ausgehandelt. Anfang der Fünfzigerjahre dann, als sich die Verhältnisse besserten, erinnerten sich plötzlich viele Eltern ihrer Erziehungsaufgabe, nun sollten auf einmal wieder die früher üblichen autoritären Maßnahmen greifen. Da war es häufig schon zu spät. Die eigenen Kinder ließen sich nichts mehr sagen. Sie waren Jugendliche, die sich den herrschenden Normen verweigerten.
    Einerseits hatte Helmut Schelsky richtig erkannt, dass es sich bei den Halbstarken um eine Minderheit handelte, die zwar in den Medien viel beachtet wurde, aber keine generationsprägende Kraft besaß. Andererseits, so ahnte wohl der Soziologe, wärendie Halbstarken womöglich doch in der Lage, den Boden für eine weit stärkere Jugendprotestbewegung vorzubereiten, weshalb er sein Buch mit dem Gedicht eines unbekannten Jugendlichen abschloss. Es trägt den Titel »An die Schwachen« und richtet sich explizit an die damaligen Erwachsenen. Darin heißt es:
    Ihr habt uns keinen Weg gewiesen, der
    Sinn hat, weil ihr selber den Weg
    nicht kennt und versäumt habt,
    ihn zu suchen.
    Weil ihr schwach seid.
    Euer brüchiges »Nein« stand windschief
    vor den verbotenen Dingen.
    Und wir brauchten nur etwas zu schreien;
    dann nahmt ihr das »Nein« weg und
    sagtet »Ja«.
    Um eure schwachen Nerven zu schonen.
    Und das nanntet ihr »Liebe«.
    Weil ihr schwach seid, habt ihr euch
    von uns Ruhe erkauft.
    Solange wir klein waren, mit Kinogeld
    und Eis.
    Nicht uns habt ihr damit gedient,
    sondern euch und eurer Bequemlichkeit.
    Weil ihr schwach seid.
    Schwach in der Liebe; schwach in der Geduld,
    schwach in der Hoffnung, schwach im Glauben.
    Wir sind halb-stark, und unsere Seelen
    sind halb so alt wie wir.
    Und wir machen Radau, weil wir nicht
    weinen wollen – nach all den Dingen,
    die ihr uns nicht gelehrt habt.
    Geschwächte Erwachsene tragen die Verantwortung für ihre halbstarken Kinder – so sieht es der namenlose Dichter und Sohn, der am Schluss fordert:
    Zeigt uns für jeden von uns, der Lärm macht,
    einen von euch, der im Stillen gut ist.
    Laßt, anstatt mit Gummiknüppeln zu drohen,
    Männer auf uns los, die zeigen,
    wo der Weg ist.
    Nicht mit Worten, sondern mit ihrem Leben.
    Aber ihr seid schwach.
    Die Starken gehen in den Urwald und
    machen Neger gesund.
    Weil sie euch verachten.
    Wie wir.
    Denn ihr seid schwach;
    und wir sind halb-stark.
    Mutter, versuch zu beten,
    denn die Schwächlinge haben Pistolen.
Verspätete Kriegsfolgen in der Pubertät
    Der Freiburger Klinikarzt und Psychologe Theodor F. Hau gehörte zu den wenigen Jugendforschern, die schon früh die Halbstarken-Krawalle vor dem Hintergrund der Kriegsjahre zu sehen vermochten. In den Sechzigerjahren hatte er sich die Mühe gemacht, 1000 Krankengeschichten zu studieren. Dabei handelte es sich um die Akten aller 17- bis 25-jährigen Patienten, die im Laufe von 15 Jahren (von 1950 bis 1964) in seiner Klinik aufgenommen worden waren. Er entdeckte, »daß der prozentuale Anteil der schizoiden Neurosestrukturen vom Geburtsjahrgang 1939 an relevantzunimmt«. Dieser Wert war von unter 5 Prozent während der folgenden acht Jahre auf fast 40 Prozent gestiegen.
    1968 erschien sein Buch »Frühkindliches Schicksal und Neurose«, in dem Hau, wie im Untertitel angekündigt, auf die »Erlebnisschäden in der Kriegszeit« einging. Es fand in der Fachwelt wenig und vor allem keine dauerhafte Beachtung.
    Es handelt sich um eine wissenschaftliche Veröffentlichung, in der die jungen Patienten vor allem als kontaktarm, aggressionsgehemmt, verschlossen, verunsichert und depressiv beschrieben wurden. Sie wirkten unkonzentriert und unruhig, hieß es, oder sie seien körperlich wie erstarrt, fast alle Schulversager.
    »Die Gesamtuntersuchung zeigt, mit welchen psychischen und psychosomatischen Störungen und Erkrankungen in und nach Kriegssituationen gerechnet werden muß«, schrieb Hau. »Die Untersuchung zeigt weiterhin, daß der Ausbruch dieser spezifischen Störungen und Erkrankungen erst Jahre später in Form einer ›Welle‹ auftreten kann, und zwar im Zusammenhang mit den Aufgaben und Anforderungen, die die Pubertät und die Nachpubertät an das schizoid und depressiv

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