Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
dauernd um, und mein Vater, der aus dem Gefangenenlager kam, fiel mindestens einmal am Tag in Ohnmacht, in der Kirche oder sonstwo. Und es war für mich sehr schwierig, diesen ungewöhnlich großen Mann wieder aufzurichten.«
Als 15-Jährige fuhr sie allein auf Kohlezügen in den Norden und organisierte ohne jede Hilfe einen Umzug. Sie musste die Initiative ergreifen, weil ihre Eltern zu schwach waren.
Aber auch für Marianne hatte es Hungerzeiten gegeben, heute nicht nur Erinnerungen, sondern – das schloss ich aus der Art, wie sie es erzählte – auch Teil ihrer Identität: »Man dachte nur ans Essen, an nichts anderes dachte man. Nachts haben wir von Brot geträumt. Man hatte wirklich Wahnvorstellungen von Brot.«
Eine Zeit lang hatte sie mit ihrer Mutter bei einer Tante gewohnt, bei der das Mädchen den ganzen Tag spülen, waschen, putzen musste. »Und diese Tante«, sagt sie mit einem kleinen Seufzer, »na ja, Gott hab sie jetzt selig – also sie ließ ihr Brot immer offen in der Küche liegen. Ich glaube, ich habe mir nie etwas davon genommen, aber sie hat mir nie getraut.«
Enkelin Lena hat sich viel mit ihren beiden Großmüttern über den Krieg unterhalten. Was sie daran interessiert? Ganz einfach – der Mensch! »Eine Person wird für mich kompletter, wenn ich weiß, was sie in ihrer Kindheit und Jugend gemacht hat«, sagt sie. »Vielleicht kann ich nicht wirklich erfassen, wie es war, aber ich kann es mir ein bisschen besser vorstellen. Sie ist dann eben nicht nur die Person, die mir gegenübersitzt, sie ist mehr . . .«
Die Studentin glaubt, die Spuren des Hungerns bei beiden Großmüttern zu kennen. Nie würde Marianne Lebensmittel wegwerfen; sie kauft eben nicht mehr ein, als gebraucht wird. »Aber bei der anderen Oma«, sagt Lena, »da erlebe ich eher das Gegenteil, dass sie es ganz toll findet, alles einzukaufen und einen vollenKühlschrank zu haben. Und was sie nicht mehr essen mag, landet im Mülleimer. Ja, sie genießt diesen Überfluss – sagt sie auch selbst.«
Für ihre Großmütter habe das Thema Konsum eine große Bedeutung, so Lenas Analyse. »Die eine prasst gern, die andere ist eher sparsam und dankbar.« Marianne fühlt sich treffend beschrieben und bestätigt: »Ich würde fast behaupten, dass ich bei jedem Großeinkauf in einem Supermarkt Lobe-den-Herrn-Gefühle hab, ohne Ironie. Dass das wieder möglich ist, in einer Welt, die ja völlig zerstört war, das sitzt ganz tief in uns.«
Den Bombenkrieg überlebte Marianne Kraft im Ruhrgebiet. Die Fliegerangriffe, die Angst im Luftschutzraum. »Man nahm sich natürlich sehr zusammen«, sagt sie. »Man heulte nicht, man schrie nicht. Man war schon tapfer, weil sonst sofort die Panik ausbricht. Wenn eine durchdreht und zu schreien anfängt, das ist unerträglich für die anderen.« Und dann fällt ihr noch ein: »Bei der Geburt schrie man auch nicht. Ich habe später drei Kinder gekriegt, ich hätte nie geschrien dabei . . .«
Ständig im Hilfseinsatz, wenig Schlaf
Vom Vater kamen fast täglich Feldpostbriefe. Darin standen manchmal kleine Geschichten: Neues von Peter. Das Pferd Peter war so etwas wie der beste Freund, dem es stets gelang, den Vater aus gefährlichen Situationen herauszubringen. Man geriet in Not, aber man wurde gerettet. Eine tröstliche Botschaft.
Rückblickend sieht sich Marianne entweder übermüdet im Keller hocken, oder sie sieht sich Brote schmieren und Getränke austeilen. Als Jungmädel war sie ständig im Hilfseinsatz, dauernd auf den Beinen, wenig Schlaf. Sie half Ausgebombten, wenn es darum ging, ihre letzte Habe für die Evakuierung zusammenzupacken. Und dann wieder Brote belegen und Kannen füllen, am Bahnhof bereitstehen für die Soldaten, für die Verwundetentransporte – später für die Flüchtlingstransporte.
»Ich denke, wir hatten diese Einstellung: Unmögliches gibt es einfach nicht!«, sagt Marianne Kraft. Keine Frage, sie fühlte sich stark, im Krieg und in den schlimmen Jahren danach. Denn sie war schon in einem Alter, in dem sie zupacken konnte. Und genau das wollte sie. Sie wollte etwas tun . Auf diese Weise gelang es ihr, Gefühle des Ausgeliefertseins zurückzudrängen – weshalb sie auch keine Verwendung sah für das Aufputschmittel Pervitin, das ihr der Apotheker eines Tages in die Hand drückte, im Glauben, er täte ihr damit etwas Gutes.
Im Jahr 1943 erlebte das Ruhrgebiet die bis dahin schwersten Bombardierungen. Eine Mitschülerin starb und eine geliebte Lehrerin. Beim Warten
Weitere Kostenlose Bücher