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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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entlang, scheinbar ohne Sinn für den Verkehr um sie herum. Doch sie sind sprungbereit, wenn die fremden Herrschaften einen Zigarettenstummel wegwerfen. In den Mülltonnen ihrer Gäste aus dem Ausland wühlen sie nach Apfelsinen- und Grapefruitresten, nach Kartoffelschalen, abzunagenden Knochen und Sardinenbüchsen . . . Es scheint so, als gäbe es unter der ganzen Bevölkerung kein Liebespaar; nur einige der fremden Soldaten verschaffen sich ein flüchtiges Liebesabenteuer mit einem deutschen Mädchen, was billig zu haben ist.
    Berichte wie die von Isaac Deutscher und Peter Weiss sorgten im Ausland für eine bis dahin nicht dagewesene Welle der organisierten Hilfsbereitschaft, vor allem aus den USA und aus der Schweiz. Der Psychotherapeut Hartmut Radebold erzählt in seinem Buch »Abwesende Väter und Kriegskindheit« von einer Tante, die in der besser versorgten amerikanischen Zone lebte und deshalb in der Lage war, »jeweils 50 –100 g Haferflocken im Briefumschlag« zu schicken.
    Der Hunger beherrschte die westdeutschen Städter noch bis zur Jahreswende 1947/48; in der DDR gab es Regionen, deren Bewohner bis Anfang der Fünfzigerjahre unterernährt waren. Noch 1950 wohnten 9 Millionen Kinder in Westdeutschland unzulänglich, oft menschenunwürdig. Rund die Hälfte aller 300 000 Lagerinsassen waren Kinder und Heranwachsende.
    Bei meiner Durchsicht früher Zeitungsartikel zum besseren Verständnis der damaligen Situation ergaben sich allerdings mehr Fragezeichen als Fakten. »Die Neue Zeitung« vom 30. 4. 1952 beklagt, dass es »einwandfreie Statistiken über den Gesundheitszustand der Kinder« nicht gebe, dass aber nach Berichten der Ärzteschaft die TBC-Durchseuchung erheblich höher sei als 1939. Der Artikel informiert darüber, dass das Kieler Gesundheitsamt die Ernährungs- und Wirtschaftslage der dortigen Schuljugend untersucht habe. Über die Hälfte der Zehn- bis Elfjährigen, hieß es, bekomme nicht einmal regelmäßig Milch, ein Fünftel werde eintönig ernährt.
    Weitere Zahlen: 5,5 Millionen deutsche Kinder hatten 1945 ihre Heimat verloren. Doch schwanken die Angaben erheblich. Manchmal ist auch nur von 1,4 Millionen die Rede.
    1952 erschien eine soziologische Studie über die deutsche Nachkriegsjugend in Darmstadt. Die Wahl des Ortes machte Vergleiche möglich: Darmstadt wurde zu 50 Prozent zerstört; die Situation dort war also der anderer deutscher Städte sehr ähnlich. Laut Studie besaß ein Viertel aller 14-Jährigen kein eigenes Bett. In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« wurden die Untersuchungsergebnisse ausführlich kommentiert: »Eine andere Gefahrenquellebilden die Veränderungen des familiären Rhythmus, der sich durch berufliche Überbelastung, Nervosität und Ungeduld äußert.« Vor allem auf die Gefährdungen der Kinder aus Scheidungsfamilien (»In Darmstadt wurden im Jahr 1950 229 Ehen geschieden, gegenüber 92 im Jahr 1934«) wurde hingewiesen. Und schließlich ein Satz, der eine Entwarnung, aber auch eine gewisse Sorge enthielt: »Während in keinem Falle nachhaltige Schäden von der Bombenkatastrophe her nachgewiesen werden konnten, macht die Anpassung von Flüchtlings- oder Evakuiertenkindern an die neue Umgebung oft Schwierigkeiten.«
    Wie aus weiteren Zeitungsberichten hervorgeht, wurden ab Mitte der Fünfzigerjahre auch die Flüchtlingskinder im Großen und Ganzen als problemfrei gesehen. Man lobte ihre guten Schulleistungen und wie mühelos sie den Dialekt ihrer Umgebung angenommen hätten.
    Ein gelungener Neuanfang, so sieht es aus. Ich würde gern glauben, dass es wirklich so war, dass also das beginnende Wirtschaftswunder die Wunden heilte und vielleicht nur Einzelne nicht so gut davongekommen waren. Aber es bleiben mehr Fragen als Antworten.
Forschen, Messen, Wiegen
    In welchem Ausmaß und über welchen Zeitraum die deutschen Kinder den Krieg und die Vertreibung noch mit sich herumschleppten, werden wir nie erfahren. Gelegentlich weckten sie zwar das Interesse der medizinisch-psychologischen Forschung, aber die Ergebnisse sind aus heutiger Sicht enttäuschend, weil die Einstellung vorherrschte: Was man nicht messen kann, das existiert auch nicht – wobei das Maßnehmen ganz konkret gemeint war.
    Das beste Beispiel dafür ist die Untersuchung »Deutsche Nachkriegskinder«, 1954 herausgegeben von den drei Professoren Coerper, Hagen und Thomae. Zum ersten Mal nach dem Krieg –zum ersten Mal in Deutschland überhaupt – hatte eine Gruppe von Ärzten und Psychologen

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